1085 - Rattenliebe
einen Moment das erleichterte Gesicht, dann drehte ich mich wieder um, denn der Fall war noch nicht gelaufen.
Als hüpfender und zitternder Strom verließen die Ratten das Verlies, als wäre es das berühmte sinkende Schiff. Jane und ich mußten damit rechnen, daß wir angegriffen wurden, aber die Tiere hatten andere Sorgen. Die schlugen vor uns einen Bogen und huschten an uns vorbei. Nur wenige krabbelten noch über unsere Schuhe hinweg und hinterließen Kratzer auf dem Leder.
Die anderen stoben davon und sicherlich einem neuen Ziel entgegen.
Wir schauten uns an.
»Hast du diese Teresa?«
»Nein, sie ist noch oben.«
»Müssen wir über die Treppe?«
Ich nickte Jane zu.
»Dann komm. Aber die Tür ist abgeschlossen. Ich weiß nicht, wie man hineinkommen kann.«
»Dann bleiben wir hier.«
»Und was weiter?«
Ich schaute den Ratten hinterher. Doch es war zu dunkel, um erkennen zu können, wohin sie verschwanden. Zu ihrer Herrin jedenfalls waren sie nicht gelaufen. »Ich weiß nicht, ob es noch einen zweiten Ausgang bei dieser Wohnung gibt, Jane. Und ich weiß auch nicht, wie sich unsere Freundin verhalten wird. Es kann sein, daß sie oben bleibt, aber vorstellen kann ich es mir nicht.«
»Sollen wir uns trennen? Hast du schon an der Rückseite nachgeschaut?«
»Nein.«
»Kann sie denn in die alte Fabrikhalle?«
Ich zuckte mit den Schultern.
»Dann laufen wir einfach den Ratten nach. Sie sind Teresas Freunde. Sie wird sie suchen wollen. Nur bei ihnen fühlt sie sich sicher. Sie geben ihr auch Schutz.«
»Ja, das wäre eine Möglichkeit.«
»Außerdem habe ich Suko alarmiert. Den Grund erzähle ich dir später. Komm jetzt.«
Janes Vorschlag war zwar gut, gefiel mir jedoch trotzdem nicht. Teresa Gentry hatte ihre Wohnung noch nicht verlassen. Zumindest nicht auf dem normalen Weg. Ich wollte sie haben. Sie gehörte nicht mehr unter Menschen. Ihr Platz in der Zukunft war in der Psychiatrie. Sie war auch keine Dämonin oder ein Monster im klassischen Sinne, so eine Mischung zwischen Mensch und Ratte, wie ich es auch schon erlebt hatte. Sie war ein Mensch, der in der falschen Spur ging. Irgendwie mußte ihr geholfen werden.
Jane sah, daß ich mich nicht rührte. »Was stört dich?« fragte sie.
»Mein Gefühl.«
»Ach - vergiß es doch!«
»Nein, das kann ich nicht.«
»Und was sagt dir dein Gefühl?«
»Daß wir beide hier eigentlich gut stehen.«
Jane schüttelte den Kopf. »Sorry, aber das verstehe ich nicht.«
»Ich auch nicht so richtig, aber ich kann mir denken, was passieren wird. Teresa ist allein. Ohne den Schutz ihrer Freunde. Ich denke mir, daß sie ihn suchen wird. Und um dies zu erreichen, muß sie ihre Wohnung verlassen.«
Jane wollte lachen, doch es wurde mehr ein Grinsen und Glucksen. »Glaubst du im Ernst, daß sie den normalen Weg nimmt?«
»Ja, das glaube ich.«
»Da bin ich mal gespannt.«
Lange brauchte sie diesem Gefühl nicht nachzugehen, denn die Tür, die wir im Blickfeld behielten, wurde geöffnet.
Lichtschein fiel wie ein Vorbote nach draußen.
Neben mir schüttelte Jane den Kopf. »Du hast recht, John, sie kommt tatsächlich.«
»Und das ohne eine Ratte!«
Teresa ging sehr langsam. Die Tür war jetzt weiter aufgedrückt worden. Die Gestalt der Frau zeichnete sich als Umriß im hellen Licht ab. Sie ging noch zwei Schritte weiter, drehte sich der Treppe zu und schob die Tür wieder ins Schloß.
Dann ging sie die Stufen hinab.
Etwas war mit ihr geschehen. Zwar ging sie wie ein normaler Mensch, aber sie kam uns nicht so vor. Sie ging ähnlich wie eine Mondsüchtige Stufe für Stufe herab. Sie schaute dabei auch nicht auf ihre Füße. Der Kopf war hoch erhoben und der Blick starr nach vorn gerichtet. Eigentlich mußte sie uns sehen, aber darauf reagierte sie nicht. Sie ging weiter, als wären wir nicht vorhanden.
»Was ist mit ihr los?« fragte Jane.
Ich hob die Schultern. »Keine Ahnung. Vielleicht ein Schock oder so…«
»Wegen deiner Flucht?«
»Auch. Sie hat voll auf ihre Freunde gesetzt und muß nun feststellen, daß sie verlassen worden ist. Ausgerechnet eine Frau, die in ihrem Leben so viel durchgemacht hat.«
»Was denn?«
»Später, Jane.«
Teresa Gentry hatte die letzte Stufe erreicht. Auch die ließ sie hinter sich. Ihren Mantel hatte sie nicht wieder übergestreift. In der Kälte mußte sie frieren, doch das machte ihr nichts. Sie gönnte uns auch jetzt, wo wir beinahe zum Greifen vor ihr standen, keinen Blick. Sie ging weiter. Nicht mehr in
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