1087 - Blutjagd
Leiche schauen wollte.
»Gab es keine Alternative, Bill?«
»Nein, bei ihr nicht.«
Estelle Crighton nickte. »Es ist noch nicht vorbei, Bill. Da ist noch jemand.«
»Haben die beiden versucht, dich zu beißen?«
»Fast an der gleichen Stelle. Es war wie bei Ezra. Sie zogen sich plötzlich zurück, als hätte ich die Pest an mir.«
»Für sie muß es so ähnlich sein.«
»Wir müssen uns beeilen, Bill. Was machen wir mit der Toten? Du kannst die nicht hier lassen.«
»Hast du eine Idee?«
Das Mannequin brauchte nicht lange zu überlegen. »Sogar eine sehr gute, denke ich. Nimm sie hoch und komm mir nach. Die beiden haben sich in einem Dienstabteil versteckt gehabt. Es gibt da auch einen Schlüssel, um es abzuschließen. Das einzige Problem ist nur dieser zweite Vampir.«
»Nicht mehr lange«, sagte Bill. »Das verspreche ich dir!«
Wenig später hatte er die Tote angehoben und quer über seine Arme gelegt. Sie konnten jetzt nur hoffen, daß die Fahrgäste auch schliefen und nichts davon merkten, welche schaurige Last durch den Wagen getragen wurde.
»Kommt ihr zurück?« rief ihnen Silvio noch mit Zitterstimme nach.
»Ja.«
Sie hatten Glück. Die Leute lagen durch die Bank weg in Morpheus' Armen. Wer nicht fest schlief, der dämmerte vor sich hin, ohne die Chance zu haben, seine Umgebung zu beobachten.
»Ich weiß nicht, ob er sich noch im Abteil befindet oder ob er es inzwischen verlassen hat. Garantieren kann ich da für nichts, Bill.«
»Zumindest ist er uns noch nicht entgegen gekommen.«
»Da hast du recht.«
Die Plattform zwischen den Wagen zitterte unter ihnen. Sie hörten das Geräusch der Räder, spürte die Kälte, und plötzlich drehte sich Estelle zu Bill hin um.
»Gib mir deine Pistole!«
Er begriff. »Du willst es machen?«
»Ja, Bill, ich. Ich möchte über meinen eigenen Schatten springen. Ich… ich muß es einfach tun.«
»Okay, nimm sie an dich!«
Estelle wußte, so sie hingreifen mußte. Als sie die Beretta dann selbst hielt, verkanteten ihre Gesichtszüge, und sie preßte die Lippen zusammen.
Bill wußte, was in ihr vorging. Das war für Estelle nicht einfach nur eine Premiere, das war mehr, viel mehr. Sie trat aus ihrem eigenen Schatten hervor, und sie mußte auch noch sprechen: »Vielleicht will es mein Lebensretter so. Ich habe den Eindruck, daß ich ihm das schuldig bin, auch wenn zwanzig Jahre vergangen sind. Es muß so sein. Er würde mir sicherlich recht geben.«
Bill lächelte schmal. »Ja, das denke ich auch.«
Sie sprachen nicht mehr, denn das Mannequin zog die Tür auf. Ein Wagen der zweiten Klasse lag vor ihnen, allerdings in Abteile unterteilt. Die Last auf Bills Armen wurde allmählich schwer. Er drückte sich hinter Estelle in den Bereich nahe der beiden Türen und legte die Tote auf den Boden.
Er bog ihren Oberkörper hoch, so daß sie an der Wand neben der Tür lehnte.
Estelle Crighton stand bereits vor der bewußten Abteiltür. Es war die erste innerhalb des Wagens.
Sie hielt die Waffe so, daß die Mündung gegen die Decke wies. Mit der freien Hand winkte sie Bill zu sich. Er hatte sie noch nicht erreicht, als er ihre Worte hörte.
»Er ist noch da…«
Auch Bill warf einen Blick in das Abteil. Was er sah, war nicht lächerlich, sondern einfach erschreckend.
Der Schaffner mußte sich im letzten Stadium der Umwandlung befinden. Es war ihm unmöglich, ruhig zu bleiben. Er wurde von irgendwelchen Kräften getrieben, die ihn wie unter einer Peitsche hielten. Zwischen den beiden Sitzreihen bewegte er sich leicht torkelnd hin und her. Er wollte sich abstützen, faßte dabei oft genug ins Leere, kippte, fing sich wieder, stolperte, aber er erhielt die neuen Kräfte schubweise, und so ging es ihm von Sekunde zu Sekunde besser.
»Schlimm, nicht?«
»So ist es immer, Estelle. Es dauert seine Zeit, bis sie sich an die neue Situation gewöhnt haben. Aber dann sind sie nicht zu stoppen. Da wird die Gier nach dem menschlichen Blut übermächtig.«
»Ich weiß!« Estelle war blaß geworden. Sie stand unbeweglich vor der Scheibe. Für sie war es eine Premiere. Bills Waffe hielt sie mit beiden Händen fest. Zwar hatte sie die Lippen zusammengepreßt, trotzdem bewegte sie den Mund, als wollte sie nur mit sich selbst sprechen.
Der Reporter bewunderte die junge Frau insgeheim. Sie war über ihren Schatten gesprungen und bewies eine Stärke, die er ihr kaum zugetraut hätte. Aber man sollte bei einem Menschen nicht vom Äußerlichen her auf die wahren Stärken
Weitere Kostenlose Bücher