1087 - Wolke im All
Augenblick streifte er die Fäden, dann sah er Janines entsetztes Gesicht hinter der Helmscheibe dicht vor sich. Der Zusammenprall der beiden Körper trieb Janine in eine andere Richtung. Henry brachte das Kunststück fertig, sich blitzschnell um seine eigene Achse zu drehen und Janine am linken Fuß zu packen. Langsam trieben sie miteinander auf die Wand der Kaverne zu - und dann sahen sie die Fremden.
Genaugenommen hatte Henry sie schon vorher gesehen, aber er hatte nicht erkannt, was er da vor sich hatte. Auf den ersten Blick war die Wand der Kaverne vollständig von metallenen und kristallinen Gebilden bedeckt, unter denen man sich zweifellos Geräte und Instrumente vorzustellen hatte, die aber auf geradezu beklemmende Weise untechnisch wirkten. In diesem Durcheinander gab es Stellen, die Henry auf den ersten Blick als „Knotenpunkte" bezeichnet hatte - kugelförmige Aufwölbungen aus einem weißlichen Material, von denen aus jeweils zehn ebenfalls weißliche Strahlen in das Gewirr der übrigen Geräte hineinführten.
Erst als sich eine dieser Auswölbungen direkt vor seinen Augen befand, erkannte Henry, daß es sich hier keineswegs um technische Einrichtungen handelte.
Was er sah, das war auf den ersten Blick so erschreckend, daß er Janine beinahe losgelassen hätte, zumal das Mädchen heftig strampelte und sich gegen seinen Griff wehrte. Henry wunderte sich nur darüber, daß Janine dabei keinen Laut von sich gab.
Schließlich ging ihm auf, daß er vergessen hatte, das Helmfunkgerät einzuschalten, und das brachte ihn zu der Erkenntnis, daß er sich nicht einmal halb so normal verhielt, wie er es sich bisher eingebildet hatte.
Er korrigierte sein Versäumnis und vernahm sofort Janines wütende Stimme.
„Laß mich los!" forderte sie. „Ich will das nicht sehen."
Henry gab sie frei, was ihr aber nicht viel nützte, denn in der Schwerelosigkeit trieb sie mit gleichbleibender Geschwindigkeit auf dem alten Kurs weiter.
„Halte sie fest!" befahl Moribunths Stimme. „Es hat keinen Sinn, sich dagegen zu sträuben. Ihr müßt es ansehen und es berühren."
Alles in Henry wehrte sich gegen diese Idee. Er packte Janine, und gleichzeitig griff er nach einem in das Innere der Kaverne ragenden Kristall. Voller Entsetzen starrte er auf das, was dicht unter ihm lag.
Die Aufwölbung war nichts anderes als der mumifizierte Körper eines fremdartigen Lebewesens. Das allein hätte Henry Horth nicht erschrecken können. Gut und schön, dieses Wesen sah aus wie eine Kreuzung zwischen Spinne und Krake, und es sah für menschliche Augen nicht gerade ästhetisch aus. Aber das war kein Grund, die Beherrschung zu verlieren. Auch die schrecklichen Verwüstungen, die der sinkende Druck dem Körper des Fremden zugefügt hatte, hätten Henry nicht ernsthaft aus dem Gleichgewicht bringen können. Viel erschreckender war da schon die Tatsache, daß unter dem deformierten Körper ein fast menschlich wirkendes Gesicht hervorlugte - ein Gesicht, das noch immer von so gräßlichen Qualen berichtete, wie Henry sie sich in seiner wildesten Phantasie nicht vorzustellen vermochte. Ein Gesicht mit hervorgequollenen, toten Augen und einem in schrecklicher Pein aufgerissenen Mund.
Und auch das hätte nicht ausgereicht, das Ausmaß an Abscheu und Entsetzen zu erklären, das Henry empfand, wäre da nicht etwas gewesen, das man nicht direkt mit den Augen, sondern nur unter Zuhilfenahme eines anderen, kreatürlichen Sinnes sehen konnte: Dieses mumifizierte Wesen war die konservierte Warnung vor einer Gefahr, die schrecklicher war, als Menschen sie sich auszumalen vermochten; vor einer Gefahr, die so ungeheuerlich war, daß das bloße Wissen um ihre Existenz zum Wahnsinn führen mußte.
„Du mußt es berühren!" wiederholte Moribunth beschwörend.
„Nein!" stieß Henry hervor.
„Du mußt! Dir bleibt nichts anderes übrig. Einer von uns muß es tun, oder sie haben umsonst gelitten. Verdammt, begreifst du es denn immer noch nicht?"
„Ich will dieses Ding nicht anfassen, und ich werde es auch nicht tun!"
„Gut. Dann werde ich mich damit abfinden müssen, daß ich der einzige bin, der die Wahrheit kennt. Niemand wird mir glauben. Die BASIS wird weiterfliegen und vernichtet werden."
„Aber wenn du es weißt..."
„Niemand wird mir glauben", wiederholte Moribunth ruhig. „Und das ist keine leere Phrase."
Henry sah sich um und entdeckte Mor auf der gegenüberliegenden Seite der Kaverne, dicht neben einem der mumifizierten
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