1091 - Das Geschöpf
sie fest.
»Bitte, Manuel, du darfst dich nicht so versteifen! Sag etwas. Sag, wie es dir geht.«
»Es ist so kalt.«
»Gut, mein Junge, gut. Du kannst sprechen. Was ist kalt? Wieso ist es kalt?«
»Ich spüre es. Das ist in mich hineingekrochen. Richtig hinein. Alles ist so schrecklich kalt. Ich friere so. Es ist wie Eis. Mein Blut ist Eis.«
»Kannst du dich bewegen?«
»Nein.«
»Versuch es bitte, Manuel!«
»Ich kann es nicht.«
Gloria verdrehte die Augen. »Ich weiß nicht, was ich mit dir machen soll. Morgen«, flüsterte sie, »morgen sehen wir weiter. Das verspreche ich dir.«
Der Junge schwieg und starrte weiterhin ins Leere. Seine Mutter konnte ihn nicht so sitzen lassen.
Sie mußte etwas für ihn tun und ihm Wärme geben. Die Heizung war schon auf die höchste Stufe gedreht worden, sie half ihm auch nicht. Denn die Kälte in seinem Innern hatte mit der normalen nichts zu tun. Gloria hatte mal gehört, daß es nichts Kälteres gab als den Tod. Wenn sie ihren Sohn anfaßte, glaubte sie, den Tod berührt zu haben.
Sie tat es wieder. Beide Hände legte Gloria auf Manuels Schultern, drückte ihn zurück und drehte sie dabei, so daß er auf das Bett sinken konnte.
Sein Kopf drückte das Kissen ein. Gloria half ihm, die Beine auszustrecken, dann hob sie die Decke an und breitete sie über seinem Körper aus.
Er schaute sie an. Die Lippen waren ebenfalls kalt geworden, das konnte sie sogar sehen. Sie hatten einen bläulichen Farbton erhalten, beinahe wie bei einem Herzkranken.
»Ich möchte dich nicht verlieren«, flüsterte Gloria. »Ich will dich auf jeden Fall behalten. Bitte, wir beide wollen nicht… sollen nicht auseinandergerissen werden.«
Er blickte sie an.
Sie sah ihn auch, aber sie konnte nicht mehr reden, weil ihr der andere Blick einfach unter die Haut ging. Es war ihr Sohn, trotzdem kam er ihr fremd vor.
»Es ist da, Mum…«
Gloria erschrak. Sie hatte nicht damit gerechnet, daß ihr Sohn von allein sprach. »Wer ist da?«
»Der Schatten.«
»Nein, ich sehe ihn nicht.«
»Doch, er ist da. Das Geschöpf. Es ist in der Nähe. Ganz dicht bei uns. Ich habe es gesehen. Es will zu mir. Ich weiß es. Und es kommt auch immer wieder.«
»Wann denn?«
»In der Nacht, Mum. In der Nacht. Dann wird aus dem Geschöpf ein Körper.«
»Und weiter?«
»Nichts weiter, Mum…«
»Tut es dir nichts?«
»Doch… nein… ich weiß nicht. Ich merke das nicht so. Ich kann dann unsere Welt nicht mehr sehen. Ich schaue woanders hin. Hinein in die Kälte.«
»Was siehst du dort?«
»Es ist alles so kalt. So grausam kalt. So unheimlich, so anders. Nicht wie hier.«
»Meinst du hier das Zimmer?«
»Nicht nur!« flüsterte er. »Die ganze Welt ist anders. Sie ist so grausam und kalt.«
Für einen Moment schloß Gloria die Augen. Grausam und kalt. So kalt wie der Tod. Tief holte sie Atem und hatte selbst das Gefühl, in der Kälte zu stehen und sie einzusaugen.
»Siehst du ihn?«
Die Frage hatte sie hochschrecken lassen. »Wen denn?«
»Den Schatten, Mum. Er ist über dir. Ich sehe ihn. An der Decke, schau doch.«
Sie blickte hoch. Ruckartig legte sie den Kopf in den Nacken und sah tatsächlich unter der hellen Decke etwas Dunkles herhuschen. Es war so schnell, daß sie nicht in der Lage war, diesen Schatten zu identifizieren. Aber sie sah jetzt ein, daß es ihn gab. Ihr Sohn hatte nicht gesponnen.
Der Schatten blieb sogar. Er ruckte von einer Seite des Zimmers zur anderen hin. War unheimlich schnell, tanzte über die Wände und war dabei so flink, daß es der Frau nicht möglich war, ihn zu identifizieren.
Er erinnerte sie an ein springendes Tier. An einen Panther oder an einen Wolf.
Dann war er weg!
Manuel sagte nichts. Er lag auf seinem Bett. War so eisigkalt geworden. Seine Augen standen weit offen. Es war wohl nur Einbildung, aber Gloria glaubte, selbst auf seinen Pupillen einen Schatten aus Eis zu sehen.
Sie stand auf. »Ich lasse dich jetzt für einen Moment allein, mein Kleiner.«
»Ist nicht schlimm, Mum.«
Die Worte taten ihr weh, aber sie riß sich zusammen und sagte selbst nichts. Mit einer heftigen Bewegung drehte sich Gloria Esteban um. Egal, wie Phil Hancock zu den Dingen stand. Ob er ihr nun glaubte oder nicht, er mußte einfach Bescheid wissen, und sie hoffte, in ihm einen Helfer zu finden.
Er war der einzige, den sie kannte und dem sie auch etwas vertraute.
***
Ich hatte den Eingang hinter mir gelassen und das große Haus betreten, in dem es ruhig war. Die Helligkeit
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