1091 - Das Geschöpf
hielt sich in Grenzen. Es gab an der linken Seite eine Portierloge, die allerdings nicht besetzt war. Eine Lampe spendete Notlicht. An der Glasscheibe der Loge klebten einige Zettel mit Anordnungen, die mich nicht interessierten. Ich suchte nach dem Büro des Chefs, mit dem ich einige Worte wechseln wollte. Zudem hoffte ich, Spuren zu finden, die sich auf dieses Haus bezogen.
Ich hatte unser Erlebnis an der Außenmauer nicht vergessen. Hier war etwas nicht in Ordnung.
Ich konnte mir die Gänge und auch die Etagen aussuchen. Das lange Suchen kostete nur Zeit. Da kam es mir gelegen, daß ich Schritte hörte und auch etwas Musik, die aus dem Zimmer drang, das der Mann geöffnet hatte, bevor ich ihn sah.
Er war einer der Heiminsassen. Er trug einen langen Mantel und einen ebenfalls langen Schal. Der Kopf wurde von einer Strickmütze bedeckt.
Als er mich sah, blieb er stehen und schüttelte leicht den Kopf. »Willst du 'ne Bleibe?«
»Nein, zum Chef.«
»Ach so, ja. Du findest Hancock da hinten.« Er zeigte mir an, wo es langging.
»Danke.«
»Keine Ursache.« Er ging weiter. Ich hörte ihn noch über die Kälte schimpfen, als er die Tür geöffnet hatte.
Das Büro lag im hinteren Teil des Erdgeschosses. Ich las auch den Namen Phil Hancock und sah in der Nähe zwei weitere Türen ohne Beschriftung.
Der Seemann hatte nichts davon gesagt, daß Hancock nicht anwesend war. Ich klopfte und hörte seine Stimme, die nicht eben freundlich klang. Trotzdem öffnete ich die Tür.
Hancock hatte wohl damit gerechnet, einen Bekannten zu sehen. Jedenfalls blickte er nicht von seinem Computer auf. Er war dabei, Zahlen oder irgend etwas einzutippen.
Ich schloß die Tür und räusperte mich.
Das Geräusch übertönte das leise Klacken der Tastatur, und Hancock schaute hoch. Seine Augen weiteten sich. Sekundenlang staunt er nur, denn mit dem Besuch eines Fremden hatte er nicht gerechnet.
Ich konnte ihn betrachten. Er war um die 40 und hatte dunkelblondes Haar, das er straff gescheitelt trug. Sein Gesicht wirkte etwas knochig, die Augen waren blaß. Es gab eigentlich keine besonderen Merkmale an ihm.
Ein Typ wie er fiel nicht auf. Er trug einen braunen Pullover und hatte ein Jackett an die Rückenlehne des Stuhls gehängt.
»Wer sind Sie denn?«
»Mein Name ist John Sinclair.«
»Müßte ich ihn kennen?«
»Nein, aber ich muß mit Ihnen reden.«
»Warum? Wer sind Sie? Kommen Sie von der Stadt?«
Während er fragte, war ich auf seinen Schreibtisch zugegangen. Davor stand ein Stuhl, auf dem ich Platz nahm. Zuvor hatte ich ihm meinen Ausweis gezeigt, das reichte aus, um Hancock etwas nervös werden zu lassen. Ich verdächtigte ihn nicht. Die meisten Menschen wurden nervös, wenn sie etwas mit der Polizei zu tun bekamen.
»Sie können sich denken, weshalb ich zu Ihnen gekommen bin, Mr. Hancock?«
»Ja«, sagte er nickend. »Da muß ich nicht erst groß raten. Ich hörte, man hat den vierten Toten im Wasser gefunden.«
»Und wieder war es einer aus dem Heim hier.«
Phil Hancock zuckte die Achseln. »Ihre Kollegen waren bereits hier. Denen habe ich das gesagt, was ich Ihnen auch nur sagen kann. Ich weiß nichts. Ich kann mir beim besten Willen keinen Reim darauf machen, warum immer Menschen sterben müssen, die hier im Sailor's Home wohnen. Es sind arme Teufel. Die haben kein Geld, kein anderes Vermögen, keine Wertsachen. Die sind wirklich froh, wenn sie ein Dach über dem Kopf bekommen. Ich sehe keinen Sinn in den Morden. Ich bin verzweifelt. Ich würde Ihnen gerne helfen, glauben Sie mir, aber ich kann es nicht.«
»Das ist verständlich«, sagte ich. »Trotzdem muß ich nachhaken. Für mich ist es nicht natürlich, daß die Opfer ausschließlich aus Ihrem Heim stammen, Mr. Hancock.«
»Das sehe ich sogar ein, wenn Sie so denken, aber was soll ich machen? Es gibt keinen Hinweis darauf, daß einer von uns etwas mit den Morden zu tun haben könnte. Wie ich hörte, waren sie alle vereist, als man sie aus dem Wasser zog. Wie hartgefroren, und ich weiß nicht, wie so etwas möglich war.«
»Daran rätseln wir auch«, erklärte ich ihm.
»Aber warum kommen Sie zu mir?«
»Das hat schon seine Gründe.«
Hancock griff zur Wasserflasche und schenkte ein Glas halbvoll ein. Er trank es mit einem Schluck leer. Erst dann konnte er wieder sprechen. »Wenn Sie von Gründen sprechen, Mr. Sinclair, warum kommen Sie zu mir? Suchen Sie die Gründe bei mir?«
»Ja.« Bevor er richtig erschrak, klärte ich ihn auf. »Nicht bei Ihnen
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