1092 - Der Vampirengel
Der Weg war vorgezeichnet, alles andere würde sie zum Ziel hin zur Seite räumen.
Dagmar ging es wieder besser. Das dumpfe Gefühl war aus ihrem Kopf verschwunden, und sie würde auch nicht kampflos aufgeben, das stand fest.
Angela hatte ihren Spaß. Sie hob den Flaschenrest an und brachte das gezackte Ende in die Nähe ihres Mundes, als wollte sie mit einem Lippenstift darüber hinwegstreichen. Ihre Zunge schnellte vor und fuhr wie liebkosend über die gezackten Scherben hinweg. An der Zunge erschien sogar Blut. Kleine Tropfen, die wie dunkle Augen aussahen und von Angela geschluckt wurden.
»Schön, nicht?« fragte sie, bevor sie noch einmal schnitt und nachleckte. »Soll ich das bei dir auch machen, Schwester? Bist du bereit, dein eigenes Blut zu trinken?«
»Verschwinde!«
»Nein! Es geht weiter. Ich habe dich auf den Friedhof gelockt. Ich habe deinen Freund nicht einmal getötet, obwohl ich es hätte tun können. Jetzt will ich auch ans Ziel gelangen, und du wirst mich dabei begleiten, Dagmar. Es hat keinen Sinn, wenn du versuchst, das dritte Auge entstehen zu lassen. Denk immer daran, daß ich es auch besitze. Wir sind uns gleich, keine ist stärker, keine ist schwächer. Aber ich habe mir eine Waffe geholt.«
Genau das bewies sie in der nächsten Sekunde. Bevor Dagmar etwas unternehmen konnte, sprang Angela auf sie zu. Dabei riß sie den Arm in die Höhe, und plötzlich tauchte das gezackte Flaschnende dicht vor Dagmars Gesicht auf. Sie war nicht einmal in der Lage gewesen, ihre Arme hochzureißen, weil alles zu schnell ging. Der Körper prallte gegen sie und sein Gewicht drückte Dagmar Hansen wieder gegen den Container.
Und sie spürte das Glas!
Der gezackte Rand berührte ihren Hals. An verschiedenen Stellen drückten die Spitzen gegen das Fleisch, und auch das Gesicht der Blonden war nicht mehr weit von Dagmars entfernt. Die untere Hälfte bestand nur aus Mund, der weit aufgerissen war. Die Zähne brauchten nur mehr zuzuhacken, und Dagmar spürte sie einen Moment später an ihrer linken Halsseite, während der gezackte Rand der Flasche gegen die andere Seite drückte.
Angela biß nicht. Sie stieß auch nicht zu. Sie flüsterte ihr statt dessen Worte zu. »Ich könnte dich auf zwei verschiedene Arten vernichten. Ich könnte auch vergessen, daß ich deine Schwester bin, aber ich will es nicht, Schwester, denn ich gebe dir eine allerletzte Chance. Hast du verstanden?«
»Welche?«
»Ich will, daß wir beide so schnell wie möglich nach London eilen. Nur wir allein, ohne deinen Freund. Er kann hier in Köln blieben und auch leben. Ich will sein Blut nicht. Solltest du dich aber weigern, wird alles anders werden. Dann werde ich zuerst dein Blut trinken, und anschließend hole ich mir deinen Freund.«
»Alles okay!« flüsterte Dagmar.
»Sehr gut!«
»Aber warum willst du mich?«
Angela kicherte und bewegte sich dabei nicht. Jedenfalls blieben ihre beiden Zähne an der gleichen Stelle. »Sind wir nicht Schwestern, Dagmar? Sind wir uns nicht gleich? Deshalb will ich dich. Es gibt nicht viele von uns, und ich sage dir, daß es besser ist, wenn wir uns alle kennenlernen. Wir sind anders, wir können eine Macht bilden, gegen die die meisten nicht ankommen. Hättest du daran keinen Spaß, Dagmar? Wäre das nicht die bessere Zukunft?«
»Ich weiß es nicht.«
»Doch, das ist sie. Ich kenne mich aus, meine Liebe. In London sieht alles anders aus.«
»Und wo willst du dort hin?«
»In die Subkultur, wo etwas Neues geboren wird. Wo das Blut schon jetzt langsam köchelt. Ich aber will es zum Kochen bringen. Ich weiß, daß es viele Menschen gibt, die plötzlich anfangen, die Vampire zu lieben, und das muß auch so sein. Es gibt Vampirfeste. Es gibt Feiern. Die Menschen beginnen, die Blutsauger zu lieben. Der Trend hat sich gedreht, denn viele wollen so sein wie sie. Und wir werden bei ihnen als Ehrengäste erscheinen. Wir beide sind keine Geschichte, wir sind kein Kino, wir sind einfach da und werden ihnen zeigen, wozu wir fähig sind. Das will ich und nichts anders.«
»Die Macht, wie?«
»Ja. Vampir und Psychonautin. Kann es noch etwas Stärkeres geben, Dagmar?«
»Ja, das gibt es!«
»Entscheide dich!« Sie blieb an Dagmars Hals. »Du mußt dich endlich entscheiden. Ich kann dir auch das untere Flaschenstück in den Hals rammen und…«
»Wo willst du hin in London?«
»Da wo sie die Feste feiern. Heute schon. Heute abend. Heute ist Freitag. Am Wochenende kommen sie zusammen. Da setzen sie die
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