1097 - Der Tod aus dem Tunnel
erkennen, wo sie sich befand und konnte möglicherweise auch den Weg nach draußen finden. Nina wollte nicht darüber nachdenken, wer sie überfallen hatte. Allerdings konnte sie sich nicht vorstellen, daß es Nikitas Kumpel gewesen war. Einen triftigen Grund gab es nicht, sie hörte einfach nur auf ihr Gefühl.
Die Zündhölzer steckten noch in der Tasche. Sie hatte sich hingekniet, fühlte die schmale Schachtel zwischen ihren Fingern und schob sie dann auf.
Sie wollte auch nicht darüber nachdenken, warum man ihr die Uniform ausgezogen hatte, es war nur wichtig, endlich die Flamme zu erzeugen, um sehen zu können, wo sie sich befand.
Mit klammen Fingern holte sie ein Zündholz hervor und zerrte es über die Reibfläche.
Die kleine Flamme zuckte auf. Sie tanzte in der Luft, und die Frau bewegte leicht ihren Arm. Viel sah sie nicht, und schon bald brauchte sie ein zweites Zündholz.
Das riß sie an, als sie stand.
Dicht neben ihr befand sich ein altes Regal aus Eisenstangen und quer liegenden Brettern. Wie von einem gütigen Engel dorthingelegt, sah sie die langen, weißen und auch recht dicken Kerzen. Sie waren die Helfer in der Not, wenn einmal der Strom ausfiel.
Nina nahm eine Kerze an sich. Sie blieb sogar auf dem Boden stehen.
Der Docht war gierig. Er nahm die Flamme augenblicklich an, und eine weitere Kerze fand ihren Platz neben der ersten. Sie schaute sich nicht um. Erst als sie sechs Kerzen aufgestellt hatte, kümmerte sich Nina um ihre Umgebung.
Es mußte eine Lagerhalle sein. Ein kleines Depot, in das man sie gebracht hatte. Nicht nur die Kerzen hatte sie gesehen, es gab auch andere wichtige Dinge, die hier in den Regalfächern lagen. Drähte, alte Steuerräder, Nägel der verschiedenen Größen, Spulen, Schraubenzieher, kleine Sägen, zurechtgeschnittene Metallstücke, auch Holz. Sie sah eine Drehund eine Hobelbank und weiter hinten, wo die Schatten dichter wurden, einen schrankähnlichen Gegenstand.
Sie umging mit kleinen und langsamen Schritten die Insel aus Kerzen.
Dabei kam ihr in den Sinn, daß sie hier so etwas wie eine Opferstätte geschaffen hatte. Und das für diejenige Person, die sie entführt hatte.
Aber wer?
Sie begann zu zittern. Erst jetzt, wo die Arbeit getan war, kam ihr richtig zu Bewußtsein, in welch einer Lage sie sich befand. Sie wußte, daß dieses gefährliche Spiel erst begonnen hatte.
Ihren Entführer sah sie nicht. Aber sie ging davon aus, daß er sich in der Nähe aufhielt und sich gut versteckt hatte, um aus dem Dunkel zuschlagen zu können.
Mit dem rechten Fuß stieß sie gegen etwas Weiches. Es lag nicht weit vom Ring der Kerzen entfernt. Sie bückte sich und schaute den Gegenstand an, über den das leicht flackernde Licht floß.
Nina glaubte, wahnsinnig zu werden!
Sie wollte schreien, doch es ging nicht. Sie brachte keinen Ton heraus.
Auf dem Gesicht stand die Panik wie festgeschrieben. Was sie da zu sehen bekam, reichte bis an die Grenzen ihres Verstandes heran. Das durfte nicht sein, das paßte nicht in das normale Leben hinein, das war der absolute Wahnsinn.
Vor ihr lag ein Tote!
Ein noch junger Mann, der genau zu dem paßte, den sie vor der Tür kennengelernt hatte.
Das mußte Nikitas Freund sein!
Er sah schrecklich aus. Jemand hatte ihn auf brutale Art und Weise getötet. Die Kehle gab es nicht mehr, und auch nicht die untere Seite seines Gesichts. Jemand hatte den Kopf mit einer ungeheuren Gewalt zerstört.
So etwas hatte Nina noch nie gesehen. Sie kannte Opfer von Überfällen, die wurden jeden Tag im Fernsehen gezeigt, aber das hier war einfach zu viel. Sie fand dafür keine Worte, und sie merkte, wie Übelkeit in ihr hochstieg. Nina konnte das Gefühl nicht mehr zurückhalten. Sie ging mit tappenden Schritten zur Seite und übergab sich. Zitternd stand sie da und zitterte vor Angst. Ihr Kopf schmerzte, das Gesicht brannte, und sie wußte, daß es noch nicht beendet war.
Der andere war noch da.
Nur - wer war es? Wer hatte sie niedergeschlagen und entführt? Sie hielt sich an einer Stange des Regals fest, sonst wäre sie zusammengebrochen. Dieser junge Mann war das Opfer eines Wahnsinnigen geworden, und Nina wußte, daß er in dieser unheimlichen Umgebung noch immer lauerte.
Das Licht der Kerzen beruhigte sie jetzt nicht mehr. Diese helle Insel war zu einem Zielpunkt geworden. So wußte dieses mordende Ungeheuer immer, wo sie sich aufhielt.
Der Plan, den Ausgang zu finden, existierte noch immer in ihrem Kopf, aber sie setzte ihn noch nicht
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