11 - Die Helden des Westens
töten, und sie konnten ihn mit ihren Kugeln nicht erreichen, denn der große Geist der Bleichgesichter schützte ihn.“
Bei diesen Worten zeigte er rechts nach der Felsenwand, aus welcher in der Höhe von vielleicht vierzig Fuß ein Vorsprung ragte, auf welchem mehrere mannshohe Felsenstücke lagen. Von ihm zog sich eine Reihe ähnlicher, aber viel kleinerer Vorsprünge abwärts bis auf den Boden herab, mit deren Benutzung man mühsam hinaufsteigen konnte. Aber wie Old Shatterhand zu Pferd hatte hinaufkommen können, das konnte nur einem so kühnen Reiter, wie er war, erklärlich sein.
Die Schoschonen stießen Rufe des Erstaunens aus. Hätte ein anderer als Winnetou es gesagt, und wäre es nicht gerade von Old Shatterhand erzählt worden, so hätten sie den Sprecher als einen Lügner verachtet.
Ihr Häuptling schritt langsam um das Grab, maß die Dimensionen desselben und fragte sodann Winnetou:
„Wann denkt mein Bruder, daß die Sioux-Ogellallah am Feuerlochflusse ankommen werden?“
„Vielleicht heut abend schon.“
„So sollen sie das Grabmal ihrer Häuptlinge zerstört finden. Der Staub derselben soll in alle Winde zerstreut und ihre Knochen sollen in das ‚Maul der Hölle‘ geworfen werden, damit ihre Seelen unten in der Tiefe jammern müssen mit K'un-p'a, dem vom großen Geist Verfluchten! Nehmt eure Tomahawks und reißt den Hügel ein! Tokvi-tey, der Häuptling der Schoschonen, wird der erste dabei sein.“
Er stieg vom Pferd und ergriff seinen Tomahawk, um das Werk der Zerstörung zu beginnen.
„Halt!“ gebot da Winnetou. „Hast du die drei Toten, welche du schänden willst, erlegt?“
„Nein“, antwortete der Gefragte verwundert.
„So laß die Hand von ihrem Grab! Sie gehören Old Shatterhand. Er hat ihnen ihre Skalpe gelassen und sie sogar mit begraben helfen. Ein tapferer Krieger kämpft nicht mit den Knochen der Toten. Die roten Männer finden ein Wohlgefallen daran, die Gräber ihrer Feinde zu schänden; der große Geist aber will, daß die Toten ruhen sollen, und Winnetou wird ihre Gräber beschützen!“
Er wendete sein Pferd und ritt davon, wieder nach dem ‚Maul der Hölle‘ zurück. Auch dieses Mal sah er sich nicht um, ob sie ihm folgen würden oder nicht.
So hatte noch kein ‚Freund‘ mit Tokvi-tey gesprochen. Der Schoschone war erzürnt; aber er wagte es doch nicht, dem Apachen zu widerstehen. Er brummte ein mürrisches „Ugh!“ vor sich hin und folgte ihm. Die Seinen ritten schweigend hinter ihm her. Das entschiedene Auftreten Winnetous hatte einen tiefen Eindruck auf sie gemacht.
Der Abend begann hereinzubrechen, als der Apache nicht weit vom ‚Maul der Hölle‘ hielt und vom Pferd stieg. Dort lief trotz der Nähe dieses Ortes ein kalter Quell aus dem Felsen, quer über das Tal und dann in den Fluß. Die Stelle hatte gar nichts, was sich besonders zur Lagerstätte geeignet hätte; aber Winnetou mußte wissen, warum er gerade hier und nirgends anders die Nacht zubringen wollte. Er pflockte sein Pferd an, rollte seine Santillodecke als Kopfkissen zusammen und streckte sich nahe am Felsen zur Ruhe aus. Die Schoschonen folgten seinem Beispiel.
Sie saßen leise plaudernd beieinander. Ihr Häuptling hatte sich, seinen Groll gegen Winnetou vergessend, neben diesem niedergelegt. Es wurde vollständig finster; mehrere Stunden vergingen, und es schien, daß der Apache schlafe. Da aber stand er plötzlich auf, ergriff sein Gewehr und sagte zu Tokvi-tey:
„Meine Brüder mögen ruhig liegenbleiben. Winnetou wird auf Kundschaft gehen.“
Er verschwand im Dunkel der Nacht. Die Zurückbleibenden wollten nicht schlafen, bevor sie das Ergebnis seines waghalsigen Ganges vernommen hatten; aber sie mußten lange warten, denn Mitternacht war nahe, als er zurückkehrte. Er meldete allen vernehmlich und in seiner einfachen Weise:
„Hong-peh-te-keh, der ‚Schwere Mokassin‘, lagert mit seinen Leuten am ‚Teufelswasser‘. Er hat den Bärentöter mit dessen fünf Gefährten bei sich und auch unsere Brüder gefangen, welche uns heut in der Nacht verlassen haben. Old Shatterhand wird in der Nähe sein. Meine Brüder mögen schlafen. Winnetou wird mit Tokvi-tey, wenn der Morgen anbricht, noch einmal nach dem ‚Wasser des Teufels‘ schleichen. Howgh!“
Er legte sich nieder. Seine Nachricht war eine aufregende, doch ließ keiner sich das merken. Die Schoschonen nahmen an, daß der nächste Morgen die blutige Entscheidung bringen werde. Wer von ihnen würde am Abend noch leben?
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