11 - Nie sollst Du vergessen
nehmen. Er sagte darum nur: »In Ordnung, Jake. Tut mir Leid, dass ich Ihnen diese unangenehme Überraschung bereitet habe«, und ließ es schweigend geschehen, dass Azoff eingeschnappt seinen Mantelkragen gegen den kalten Wind hochklappte und ging.
Er selbst machte sich, da er keinen Wagen zur Verfügung hatte und Azoff sich nicht erboten hatte, ihn nach Hause zu fahren, missmutig auf den Weg zum Bahnhof in der Nähe von Hampstead Heath. Wenigstens, sagte er sich zum Trost, während er sich innerlich gegen die Fahrt in einem der unappetitlichen Züge wappnete, war es nicht die Untergrundbahn. Und es hatte seit gut einer Woche kein Zugunglück mehr gegeben, obwohl man den Eindruck nicht los wurde, dass die verschiedenen Eisenbahngesellschaften sich gegenseitig an Unfähigkeit zu überbieten suchten.
Er ging den Downshire Hill hinauf und bog nach rechts in den Keats Grove ein, wo beim Haus des Dichters, der dem Ort den Namen gegeben hatte, eine Frau mittleren Alters mit einer schweren Aktentasche, deren Gewicht ihre Schulter nach unten zog, aus dem Park trat. Pitchley-Pitchford ging langsamer, als sie sich nach rechts wandte, in die gleiche Richtung wie er. Zu einer anderen Zeit wäre er ihr nachgelaufen, um ihr die Tasche abzunehmen. So was gehörte sich einfach für einen Gentleman.
Ihre Fesseln waren eine Spur zu dick, sonst aber war sie genau so, wie er Frauen gern hatte: ein wenig verbraucht, ein wenig abgetakelt, mit dem etwas gehemmten, geistig interessierten Ausdruck im Gesicht, der nicht nur ein angenehmes Maß an Intelligenz versprach, sondern auch jenen Mangel an Vertrauen in die eigene Attraktivität, den er so anregend fand. Stets entpuppten sich die Frauen aus dem Chatroom als solche, wenn er sie schließlich persönlich traf, und das war der Grund, warum er wider besseres Wissen und trotz der Gefahr, sich mit irgendeiner scheußlichen Krankheit zu infizieren, immer wieder auf Internetbekanntschaften zurückgriff. Und obwohl nach dem, was er soeben bei der Polizei in Hampstead erlebt hatte, die Vernunft ihm sagte, dass es hirnverbrannt war, weitere anonyme Begegnungen mit Frauen zu suchen, hatte der andere Teil seiner Persönlichkeit - das Reptil in ihm - überhaupt keine Lust, aus Schaden klug zu werden und in Zukunft die vertrauten Spielchen zu lassen. Es gibt wirklich Dinge, die mehr Gewicht haben als ein bisschen Ärger mit der Polizei, James, hielt das Reptil ihm vor. Denk beispielsweise nur einen Moment lang an die köstliche Lust, die die verschiedenen Öffnungen des weiblichen Körpers zu bereiten und zu empfangen vermögen.
Aber dies war nicht der Moment, sich Fantasien hinzugeben. Tatsache war, dass die Tote in Crediton Hill, die seine Adresse bei sich gehabt hatte, Eugenie Davies gewesen war, die er früher einmal gekannt hatte.
Damals hieß er James Pitchford, war fünfundzwanzig Jahre alt, hatte drei Jahre zuvor sein Studium abgeschlossen und ein Jahr zuvor ein Miniapartment von der Größe einer Rumpelkammer in Hammersmith aufgegeben. Ein Jahr in dieser Unterkunft ermöglichte es ihm, eine Sprachenschule zu besuchen, wo er für eine exorbitante Summe, die wieder hereinzuholen er Jahre brauchte, den dringend notwendigen Einzelunterricht in seiner Muttersprache nahm, der ihn für Geschäftsverhandlungen, den Umgang mit den besseren Kreisen und die Demontage hochnäsiger Hotelportiers fit machen sollte.
Von dort aus ergatterte er seinen ersten Job in der City, und da machte sich eine Adresse in Zentrallondon natürlich absolut hervorragend. Da er niemals Kollegen zu sich einlud, sei es auf einen Drink oder zum Abendessen oder aus anderem Anlass, erfuhr niemand, dass die Briefe und aufwändigen Einladungen, die an eine feudale Adresse in Kensington abgeschickt wurden, in einem Mansardenzimmer landeten, das noch kleiner war als das Apartment in Hammersmith, in dem er angefangen hatte.
Aber er nahm die Beengtheit seines kleinen Zimmers gern in Kauf, nicht nur um der guten Adresse, sondern auch um der Gemeinschaft willen, die er in diesem Haus fand. In der Zeit nach den Tagen am Kensington Square hatte J. W. Pitchley sich darin geübt, nicht an diese Gemeinschaft zu denken. Für James Pitchford jedoch, der sie genossen hatte und ihr den Erfolg seiner Bemühungen, sich selbst neu zu erfinden, zuschrieb, hatte es kaum einen Moment gegeben, in dem er nicht wenigstens flüchtig an dieses oder jenes Mitglied des häuslichen Kreises dachte. Vor allen anderen an Katja.
»Du kannst mir bitte
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