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11 - Nie sollst Du vergessen

11 - Nie sollst Du vergessen

Titel: 11 - Nie sollst Du vergessen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth George
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Geigenlehrer ja nicht im Haus gelebt hatte. Aber es war schon merkwürdig, dass er in all den Jahren Sarah-Jane Beckett nicht einmal einen flüchtigen Gedanken gewidmet hatte. Sie war schließlich immer sehr präsent gewesen.
    »Ich finde meine Position hier durchaus angemessen«, erklärte sie ihm bald nach ihrer Einstellung in dieser etwas verschrobenen, präviktorianischen Art, in der sie sich auszudrücken pflegte, wenn sie die Gouvernante herauskehrte. »Gideon mag bisweilen schwierig sein, aber er ist ein bemerkenswerter Schüler, und ich fühle mich geehrt, unter neunzehn Kandidaten ausgewählt worden zu sein, ihn zu unterrichten.«
    Sie war gerade erst ins Haus gekommen und würde wie er in einem Zimmerchen in der Mansarde wohnen. Sie würden sich ein winziges Badezimmer teilen müssen, keine Wanne, nur eine Dusche, in der ein Mann von durchschnittlichem Körperbau sich kaum drehen konnte. Sie hatte das gleich an dem Tag gesehen, als sie eingezogen war, entsetzt vermerkt, aber schließlich mit Märtyrermiene seufzend akzeptiert.
    »Ich wasche keine Wäsche im Badezimmer«, teilte sie ihm mit, »und es wäre mir angenehm, wenn Sie das ebenfalls unterlassen würden. Wenn wir in solchen Kleinigkeiten aufeinander Rücksieht nehmen, werden wir gewiss gut miteinander auskommen. Woher kommen Sie, James? Ich weiß nicht recht, wo ich Sie unterbringen soll. Normalerweise habe ich ein sehr gutes Ohr für Dialekte. Mrs. Davies ist zum Beispiel in Hampshire aufgewachsen. Haben Sie ihr das nicht angehört? Sie ist mir recht sympathisch. Mr. Davies auch. Aber der Großvater! Der scheint mir etwas ... Nun ja. Man soll ja nichts Schlechtes sagen, aber ...« Sie tippte sich mit dem Finger an die Stirn und verdrehte die Augen zur Zimmerdecke.
    Der hat 'nen Sprung in der Schüssel, hätte James zu einer anderen Zeit in seinem Leben gesagt. Nun aber sagte er: »Ja, er ist ein komischer Vogel, nicht wahr? Gehen Sie ihm einfach aus dem Weg. Er ist im Grunde genommen völlig harmlos.«
    Etwas über ein Jahr lebte man in friedlicher Gemeinschaft unter einem Dach. James ging, genau wie Richard und Eugenie Davies, jeden Morgen zur Arbeit, während die beiden Alten zu Hause blieben. Großvater werkelte im Garten, und Großmutter kümmerte sich um den Haushalt. Raphael Robson beaufsichtigte Gideons Geigenspiel, Sarah-Jane Beckett unterrichtete den Jungen in sämtlichen Schulfächern von der Literatur bis zur Geografie.
    »Die Arbeit mit diesem Jungen ist wirklich unglaublich«, berichtete sie ihm. »Er saugt das Wissen auf wie ein Schwamm. Man würde vielleicht vermuten, er wäre in allem außer der Musik hoffnungslos unbegabt, aber das stimmt nicht. Wenn ich ihn mit den Schülern in meinem ersten Jahr in Nord-London vergleiche ...«
    Wieder verdrehte sie, wie das ihre Gewohnheit war, die Augen, um ihrer Meinung Ausdruck zu geben: NordLondon, wo sich der Abschaum der Gesellschaft tummelte. Mehr als die Hälfte ihrer Schüler seien Schwarze gewesen, berichtete sie. Und die übrigen - hier eine effekthascherische Pause - Iren. »Nichts gegen Minderheiten, aber man muss ja bei seiner Arbeit nicht alles ertragen.«
    Sie suchte seine Gesellschaft, wenn sie nicht mit Gideon zu tun hatte, forderte ihn zum Kinobesuch auf oder zu einem Bier oder Wein im Greyhound. »Rein freundschaftlich«, pflegte sie zu sagen, aber in der Dunkelheit des Kinosaals, wenn die Bilder über die Leinwand flimmerten, drückte sie an diesen »rein freundschaftlichen« Abenden oft ihr Bein an das seine, oder sie hakte sich bei ihm ein, wenn sie das Pub betraten, und ließ ihre Hand dann über seinen Bizeps und Ellbogen zu seinem Handgelenk hinuntergleiten, sodass ihre Finger, wenn sie einander begegneten, sich ganz von selbst verschränkten und so blieben.
    »Erzähl mir von deiner Familie, James«, pflegte sie ihn zu drängen. »Komm schon. Ich will alles wissen.«
    Und er erzählte Märchen, wie er sich das schon lange zur Gewohnheit gemacht hatte. Er fühlte sich geschmeichelt, dass sie, ein gebildetes Mädchen aus guter Familie, ihm ihre Aufmerksamkeit schenkte. Er hatte so viele Jahre lang immer nur den Mund gehalten und den Kopf eingezogen, dass ihr Interesse an ihm eine Sehnsucht nach Gemeinschaft weckte, die er fast sein Leben lang unterdrückt hatte.
    Doch sie war nicht die Gefährtin, die er suchte. Zwar hätte er nicht sagen können, was er suchte, aber es durchzuckte ihn keinerlei Verlangen, wenn Sarah-Jane ihn berührte, keine prickelnde Sehnsucht, mehr

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