Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
11 - Nie sollst Du vergessen

11 - Nie sollst Du vergessen

Titel: 11 - Nie sollst Du vergessen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth George
Vom Netzwerk:
hat.«
    Daraufhin wurde es still, und da wir am Telefon miteinander sprachen und nicht von Angesicht zu Angesicht, konnte ich nur versuchen, mir das Gesicht meines Vaters vorzustellen. Ich vermute, es erstarrte vor Anspannung, und der Blick verdüsterte sich. Raphael hatte einen zwanzig Jahre alten Pakt gebrochen, als er mir die Wahrheit über Sonias Tod verriet. Es war klar, dass meinem Vater das nicht gefiel.
    »Was ist damals passiert?«, fragte ich.
    »Ich will darüber nicht sprechen.«
    »Es ist der Grund, warum Mutter uns verlassen hat, nicht wahr?«
    »Ich habe gesagt -«
    »Nichts! Gar nichts hast du mir gesagt. Wenn dir wirklich so viel daran liegt, mir zu helfen, warum lässt du mich dann jetzt einfach hängen?«
    »Weil diese Geschichte mit deinem Problem überhaupt nichts zu tun hat. Das alles wieder auszugraben, jedes Detail unter die Lupe zu nehmen und ad infinitum hin und her zu drehen, ist eine geniale Methode, den wahren Fragen auszuweichen, Gideon.«
    »Für mich ist es die einzige Möglichkeit, die Sache anzugehen.«
    »Blödsinn! Du lässt dich an der Nase herumführen wie ein Tanzbär.«
    »Das ist nun wirklich nicht fair.«
    »Ach ja? Was soll ich denn sagen! Glaubst du, ich finde es fair, einfach auf die Seite geschoben zu werden und untätig zusehen zu müssen, wie mein Sohn sein Leben wegwirft, erleben zu müssen, wie er beim ersten kleinen Problem in seiner Karriere völlig aus dem Gleichgewicht gerät, nachdem ich fünfundzwanzig Jahre meines Lebens dafür geopfert habe, ihm zu helfen, der große Musiker zu werden, der er immer werden wollte? Glaubst du, ich finde es fair, wenn die Liebe und das Vertrauen, die mein Sohn mir dank der einzigartigen Beziehung zwischen uns jahrelang entgegenbrachte, nun an eine beliebige Psychotherapeutin verschleudert wird, die als Empfehlung nicht mehr vorzuweisen hat, als dass sie es geschafft hat, den Machu Picchu aus eigener Kraft zu besteigen.«
    »Du lieber Gott! Du hast offensichtlich gründlich geschnüffelt!«
    »Gründlich genug, um dir sagen zu können, dass du deine Zeit verschwendest. Verdammt noch mal, Gideon -«, aber seine Stimme war nicht hart, als er das sagte: »Hast du's auch nur versucht?«
    Zu spielen, meinte er natürlich. Das war das Einzige, was ihn interessierte. Es war, als wäre ich für ihn nur noch eine Musik produzierende Maschine.
    Als ich schwieg, erklärte er nicht ohne eine gewisse Berechtigung: »Siehst du denn nicht, dass das vielleicht nichts weiter war als ein vorübergehender Blackout? Aber weil es in deiner Karriere bisher nie auch nur die kleinste Panne gegeben hat, bist du sofort in Panik geraten. Nimm die Geige zur Hand, um Gottes willen. Tu es für dich, bevor es zu spät ist.«
    »Zu spät wofür?«
    »Um die Angst zu überwinden. Lass dich nicht von ihr überwältigen, Gideon. Halte nicht an ihr fest.«
    Das alles klang nicht unlogisch. Im Gegenteil, es schien einen Weg zu weisen, der vernünftig und praktisch war. Vielleicht machte ich wirklich aus einer Mücke einen Elefanten und versteckte mich in meinem gekränkten beruflichen Stolz hinter einem eingebildeten »seelischen Leiden«.
    Ich nahm also die Guarneri zur Hand, Dr. Rose. Ich hob sie zum Kinn. Ich erlaubte mir, vom Blatt zu spielen, und nahm mir allen Druck, indem ich ein Violinkonzert von Mendelssohn wählte, das ich schon tausendmal gespielt hatte. Ich spürte meinen Körper, wie Miss Orr befohlen hätte. Ich konnte ihre Stimme hören: »Oberkörper gerade, Schultern locker. Den Aufstrich mit dem ganzen Arm. Nur die Fingerspitzen bewegen sich.«
    Ich hörte alles, aber ich konnte es nicht umsetzen. Der Bogen kratzte über die Saiten, und meine Finger am Griffbrett waren plump und unsensibel.
    Nerven, dachte ich, nichts als die Nerven.
    Ich versuchte es ein zweites Mal. Es war noch schlimmer. Was ich hervorbrachte, war Geräusch, Dr. Rose, mit Musik hatte es nichts zu tun. Und gar Mendelssohn spielen - ebenso gut hätte ich versuchen können, vom Musikzimmer aus zum Mond zu fliegen. Ein Ding der Unmöglichkeit!
    Wie war es denn, den Versuch zu wagen?, fragen Sie.
    Wie war es, den Sarg über Tim Freeman zu schließen?, entgegne ich, über Ihrem Ehemann und Gefährten und was er Ihnen sonst noch war, Dr. Rose. Wie war es, als Ihr Mann starb? Ich sehe hier dem Tod ins Auge, und wenn es eine Wiederauferstehung gibt, dann muss ich wissen, wie sie ausgerechnet dadurch bewerkstelligt werden soll, dass ich in der Vergangenheit herumstochere und meine

Weitere Kostenlose Bücher