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11 - Nie sollst Du vergessen

11 - Nie sollst Du vergessen

Titel: 11 - Nie sollst Du vergessen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth George
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verdammten Träume aufschreibe. Verraten Sie mir das, bitte!

2. Oktober
    Ich habe es meinem Vater nicht gesagt.
    Warum nicht?, fragen Sie.
    Es wäre mir unerträglich gewesen.
    Was wäre Ihnen unerträglich gewesen?
    Seine Enttäuschung zu sehen, vermute ich. Seine Reaktion auf mein Versagen. Sein ganzes Leben dreht sich um mich, und mein ganzes Leben dreht sich um mein Spiel. Im Augenblick rasen wir beide dem Abgrund entgegen, und ich finde, es ist eine Gnade, wenn es nur einer von uns weiß.
    Als ich die Geige wieder in den Kasten legte, stand mein Entschluss fest. Ich verließ das Haus.
    Aber auf der Vortreppe stieß ich auf Libby. Sie saß da, ans Geländer gelehnt, und hatte einen aufgerissenen Beutel Marshmallows auf dem Schoß. Sie hatte offenbar noch keine Marshmallows gegessen, aber ihrer Miene nach zu urteilen, schien sie gute Lust dazu zu haben.
    Ich hätte gern gewusst, wie lange sie schon da saß. Mit ihren ersten Worten sagte sie es mir.
    »Ich hab dich gehört.« Sie stand auf, sah zu dem Beutel mit den Marshmallows hinunter und schob ihn dann unter den Latz ihrer Hose. »So ist das also, hm? Darum spielst du nicht mehr. Warum hast du mir nie was gesagt? Ich dachte, wir wären Freunde.«
    »Sind wir doch!«
    »Ach ja? Freunde helfen einander.«
    »In diesem Fall kannst du mir nicht helfen. Ich weiß ja selbst nicht, was los ist, Libby.«
    Sie starrte niedergeschlagen auf die Straße. »Ach, Scheiße! Was soll das alles, Gid? Wir ziehen miteinander los und lassen deine Drachen steigen, wir sausen in deinem Segelflieger durch die Luft, wir schlafen in einem Bett. Und da kannst du nicht mal mit mir reden?«
    Das Gespräch war eine Reprise unzähliger ähnlicher Diskussionen mit Beth, allerdings mit einer Themaverschiebung. Bei Beth hatte es immer geheißen, Gideon, wenn wir nicht einmal mehr miteinander schlafen In der Beziehung mit Libby war das noch nicht zum Thema geworden, weil sie noch nicht weit genug gediehen war, und darüber war ich froh. Ich ließ Libby ausreden, ohne etwas darauf zu sagen. Als sie merkte, dass sie keine Antwort bekommen würde, lief sie mir zum Auto nach. »Hey!«, rief sie. »Warte doch mal. Ich rede mit dir. Warte, verdammt noch mal!« Sie packte mich beim Arm.
    »Ich muss los«, sagte ich.
    »Wohin?«
    »Victoria.«
    »Wozu?«
    »Libby -«
    »Na gut.« Und als ich den Wagen aufgesperrt hatte, stieg sie einfach ein. »Dann komme ich eben mit.«
    Um sie loszuwerden, hätte ich sie eigenhändig aus dem Wagen zerren müssen. Die entschlossene Miene und der trotzige Blick verrieten, dass sie zum Widerstand bereit war. Für eine Rangelei fehlten mir die Energie und die Lust, ich startete deshalb ohne ein Wort den Wagen, und wir fuhren zum Victoria-Bahnhof.
    Die Räume der Press Association sind gleich um die Ecke vom Bahnhof in der Vauxhall Bridge Road. Dorthin fuhr ich. Unterwegs zog Libby die Marshmallows heraus und begann zu essen.
    »Ich dachte, du machst gerade die ›Kein-Weiß-Diät‹«, bemerkte ich.
    »Die Dinger sind rosa und grün, falls dir das noch nicht aufgefallen sein sollte.«
    »Aber du hast doch mal gesagt, alles, was künstlich gefärbt ist, zählt als weißes Nahrungsmittel.«
    »Ich rede viel, wenn der Tag lang ist.« Sie knallte sich den Beutel mit Marshmallows auf die Oberschenkel und schien einen Entschluss zu fassen. »Ich möchte wissen, wie lange«, sagte sie. »Und ich würde dir raten, mir die Wahrheit zu sagen.«
    »Wie lang was?«
    »Seit wann spielst du schon nicht mehr? Oder spielst so wie eben, mein ich. Seit wann?« Und mit einer Sprunghaftigkeit, die nicht ganz untypisch für sie war, fügte sie hinzu: »Okay, lass nur. Ich hätt's viel früher merken müssen. Aber Rock, dieser Mistkerl - daran ist nur er schuld.«
    »Also, man kann ja wohl kaum deinem Mann -«
    »Ex, bitte.«
    »Noch nicht.«
    »Aber nah dran.«
    »Na gut. Aber man kann wohl kaum ihm die Schuld daran geben -«
    »Auch wenn er noch so widerlich ist.«
    »- dass ich im Moment Schwierigkeiten habe.«
    »Davon red ich doch überhaupt nicht«, entgegnete sie mit einem gereizten Unterton. »Es gibt außer dir noch andere Menschen auf der Welt, Gideon. Ich hab von mir geredet. Ich hätte viel früher gecheckt, was mit dir los ist, wenn ich nicht so auf Rock fixiert gewesen wäre -«
    Doch ich hörte kaum, was sie über ihren Mann sagte. Mich beschäftigte der Satz, den sie davor gesagt hatte: ... außer dir noch andere Menschen auf der Welt, Gideon. Sie klangen wie ein Echo dessen,

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