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11 - Nie sollst Du vergessen

11 - Nie sollst Du vergessen

Titel: 11 - Nie sollst Du vergessen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth George
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ich von ihr gesehen habe. Ach ja, und Sarah-Jane Beckett war da, mit einem Picknickkorb, aus dem sie nicht Speisen herausholte, sondern einen Säugling. Sie bot das Kind ringsherum an wie eine Brötchenplatte, und alle lehnten ab. Ein Baby kann man nicht essen, erklärte ihr mein Großvater.
    Dann war es finster vor den Fenstern, und irgendjemand sagte: Natürlich, wir sind jetzt unter Wasser.
    Und da geschah es - die Tunnelwände barsten, und Wasser drang ein. Es war nicht schwarz wie das Innere des Tunnels, sondern durchsichtig wie auf dem Grund eines Flusses, wo man beim Tauchen durch das Wasser nach oben schauen und die Sonne erkennen kann.
    Dann veränderte sich die Szene plötzlich, wie das im Traum oft vorkommt, und wir waren nicht mehr im Zug. Wir waren nicht mehr unter Wasser, sondern an einem Seeufer. Auf einer Decke lag ein Picknickkorb, und ich wollte ihn unbedingt aufmachen, weil ich so hungrig war. Aber ich konnte die Lederriemen am Korb nicht öffnen. Ich bat die anderen, mir zu helfen, aber keiner tat etwas, weil keiner mich hörte.
    Sie waren nämlich alle aufgesprungen und deuteten mit ausgestreckten Armen, rufend und schreiend, auf ein Boot, das in einiger Entfernung vom Ufer über den See trieb. Ich verstand plötzlich, was sie riefen. Es war der Name meiner Schwester. Irgendjemand sagte, sie sei ganz allein im Boot zurückgeblieben, und wir müssen sie holen! Aber niemand rührte sich.
    Dann waren die Lederriemen an dem Picknickkorb plötzlich weg, als wären sie nie da gewesen. Jubelnd klappte ich den Deckel hoch, um mir etwas zu essen herauszuholen, aber es war nichts zu essen im Korb. Nur der Säugling. Und irgendwie wusste ich, dass der Säugling meine Schwester war, obwohl ich das Gesicht nicht sehen konnte. Kopf und Schultern waren von einem Schleier bedeckt, so ähnlich wie man sie bei den Marienstandbildern sieht.
    Im Traum sagte ich, Sosy - ich nannte Sonia damals so - ist hier. Sie ist hier! Aber keiner von denen, die am Ufer standen, hörte auf mich. Stattdessen begannen sie, dem Boot entgegenzuschwimmen, und ich konnte sie nicht aufhalten, so laut ich auch schrie. Ich hob das Kind aus dem Korb, um ihnen zu zeigen, dass ich die Wahrheit sagte. Ich rief laut: Sie ist hier! Seht doch! Sosy ist hier! Kommt zurück, da draußen in dem Boot ist niemand! Aber sie schwammen immer weiter, einer nach dem anderen, wie aufgefädelt, und einer nach dem anderen verschwanden sie unter der Oberfläche des Sees.
    Ich versuchte verzweifelt, sie aufzuhalten. Ich glaubte, wenn sie nur ihr Gesicht sehen könnten, wenn ich sie nur hoch genug hielte, würden sie mir glauben und umkehren.
    Ich riss an dem Schleier über dem Gesicht meiner Schwester, aber darunter war ein zweiter Schleier, Dr. Rose, und unter diesem noch einer. Ich zerrte und riss, bis ich völlig außer mir war und laut weinte und kein Mensch außer mir mehr am Ufer war. Sogar Sonia war fort. Da wandte ich mich wieder dem Picknickkorb zu, aber auch diesmal fand ich nichts zu essen darin, sondern lauter Drachen. Ich begann, sie herauszuzerren und zu Boden zu werfen, und während ich zog und riss, überkam mich eine Hoffnungslosigkeit wie nie zuvor in meinem Leben. Hoffnungslosigkeit und schreckliche Angst, weil alle fort waren und mich allein gelassen hatten.
    Und was haben Sie getan?, fragen Sie teilnehmend.
    Nichts. Libby hat mich geweckt. Ich war schweißgebadet, hatte wahnsinniges Herzklopfen und weinte.
    Ich habe wirklich geweint, Dr. Rose, wegen eines Traums!
    Ich sagte zu Libby: »Es war nichts in dem Korb. Ich konnte sie nicht aufhalten. Ich hatte sie bei mir, aber sie konnten es nicht sehen und sind in den See gegangen und nicht wieder herausgekommen.«
    »Du hast nur geträumt«, sagte sie. »Komm. Komm zu mir. Ich nehm dich eine Weile in den Arm, okay?«
    Richtig, Dr. Rose, sie war die Nacht über geblieben. Wir machen das oft. Sie kocht oder ich koche, wir spülen zusammen ab und sehen uns etwas im Fernsehen an. Das ist alles, was mir geblieben ist: das Fernsehen. Wenn Libby überhaupt bemerkt, dass wir keine Musik mehr hören, keinen Perlman, keinen Rubinstein, keinen Menuhin - nicht einmal den wunderbaren Menuhin, der wie ich das Kind seines Instruments war -, so hat sie bisher kein Wort darüber verloren. Wahrscheinlich ist ihr das Fernsehen ohnehin viel lieber. Sie ist eben doch eine typische Amerikanerin.
    Wenn wir vom Fernsehen genug haben, schlafen wir. Wir schlafen zusammen in einem Bett, immer in derselben Bettwäsche,

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