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11 - Nie sollst Du vergessen

11 - Nie sollst Du vergessen

Titel: 11 - Nie sollst Du vergessen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth George
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Genauso wie Großmutter immer »Jack« ruft, wenn sie hofft, eine »Episode« abwehren zu können.
    Mein Vater befiehlt mir, in mein Zimmer zu gehen, und der Polizeibeamte sagt daraufhin, er zögere das Unvermeidliche nur hinaus. Ich weiß nicht, was er meint, aber ich gehorche meinem Vater - wie immer - und verlasse das Zimmer. Ich höre den Inspector noch sagen: »Das macht alles nur noch beängstigender für den Jungen«, und meinen Vater heftig erwidern: »Ich will Ihnen mal was sagen -« Dann wird er von Mutter unterbrochen, die mit brüchiger Stimme ruft: »Bitte, Richard!«
    Meine Mutter weint. Daran sollte ich mich eigentlich mittlerweile gewöhnt haben. Immer in Grau und Schwarz gekleidet, immer bleich, weint sie seit mehr als zwei Jahren unablässig, so scheint es. Aber ob sie nun weint oder nicht, sie kann die Situation an diesem Tag nicht ändern.
    Vom Zwischengeschoss aus sehe ich den Polizeibeamten gehen. Meine Mutter bringt ihn zur Tür. Er spricht mit ihr, sie hält den Kopf gesenkt, während er sie unverwandt ansieht und die Hand ausstreckt, um sie zu berühren, es aber dann doch nicht tut. Dann ruft mein Vater nach meiner Mutter, und sie dreht sich um. Sie sieht mich nicht auf ihrem Weg zurück zu ihm. Hinter der geschlossenen Tür schreit mein Vater sie an.
    Hände umfassen meine Schultern, und ich werde vom Treppengeländer weggezogen. Ich drehe mich um, SarahJane Beckett steht hinter mir. Sie geht neben mir in die Hocke und legt mir den Arm um die Schultern, wie zuvor meine Mutter, aber sie zittert nicht. So bleiben wir einige Minuten lang - und die ganze Zeit hören wir die Stimmen meiner Eltern, laut und scharf die meines Vaters, zaghaft und furchtsam die meiner Mutter. »... Das kommt mir nicht wieder vor, Eugenie«, sagt mein Vater. »Ich erlaube es nicht. Hast du mich verstanden?«
    Ich nehme mehr als Zorn in seiner Stimme wahr. Ich nehme Gewalt wahr, die gleiche Art von Gewalt wie bei meinem Großvater, Gewalt, die einem zerbrechenden Geist entspringt. Ich habe Angst.
    Suchend sehe ich zu Sarah-Jane hinauf. Aber was suche ich denn? Schutz? Bestätigung dessen, was ich von unten höre? Ablenkung? Egal was, alles. Aber sie ist starr vor Spannung, ihr Blick unverwandt auf die Wohnzimmertür gerichtet. Fasziniert starrt sie auf diese Tür, und ihre Finger krampfen sich immer fester um meine Schultern, bis es wehtut. Ich stoße einen leisen Schmerzenslaut aus und blicke zu ihrer Hand hinunter. Abgekaute, rissige Fingernägel, die Nagelhaut entzündet und blutig. Aber ihr Gesicht glüht, sie atmet tief und macht keine Bewegung, bis das Gespräch unten abbricht und Schritte auf dem Parkettboden laut werden. Da nimmt sie mich rasch bei der Hand und zieht mich mit sich die Treppe hinauf in die zweite Etage, vorbei an der geschlossenen Tür des Kinderzimmers, zurück zu meinem Zimmer, wo die Schulbücher wieder aufgeschlagen sind und eine Karte den Amazonas zeigt, der wie eine Giftschlange über den ganzen Kontinent kriecht.
    Was ist denn zwischen Ihren Eltern gewesen?, fragen Sie mich.
    Heute scheint mir die Antwort klar: die Frage der Schuld.

11. Oktober
    Sonia ist tot. Ihr Tod verlangt nach einer Abrechnung, nicht nur in einem Gerichtssaal des Old Bailey, nicht nur vor dem Gericht der öffentlichen Meinung, sondern auch vor dem Gericht der Familie. Denn jemand muss die Last der Verantwortung auf sich nehmen: für die Geburt dieses unvollkommenen Kindes, für die unzähligen körperlichen Leiden, die es während seines kurzen Lebens geplagt haben, für seinen vorzeitigen, gewaltsamen Tod. Ich weiß heute, was ich damals noch nicht wissen konnte: Das, was in dem Badezimmer in Kensington geschah, wäre nicht zu überleben gewesen, wenn nicht der Schuld ein Platz zugewiesen worden wäre.
    Mein Vater kommt zu mir ins Zimmer. Sarah-Jane und ich haben unsere Stunde beendet. Sie ist mit James, dem Untermieter, weggegangen. Ich habe die beiden von meinem Fenster aus beobachtet, als sie über die Steinplatten vor dem Haus gingen und durch die Pforte hinaus. Sarah-Jane trat zurück, um sich von James, dem Untermieter, die Pforte öffnen zu lassen, und wartete, nachdem sie an ihm vorbei hinausgegangen war, auf dem Bürgersteig auf ihn. Sie nahm seinen Arm und drängte sich auf diese Art an ihn, die Frauen manchmal haben, um ihre Brüste - obwohl sie kaum welche hat - an seinen Arm zu pressen. Wenn er überhaupt etwas fühlte, so ließ er es sich nicht anmerken. Vielmehr ging er sofort los in Richtung zum

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