11 - Nie sollst Du vergessen
die seit Wochen nicht gewechselt worden ist. Aber sie ist unbefleckt, Dr. Rose.
Libby hielt mich im Arm, mein Herz raste. Mit der rechten Hand streichelte sie meinen Kopf, und mit der linken strich sie über meinen Rücken. Sie ließ ihre Hand zu meinem Po hinunterwandern, bis wir Bauch an Bauch dalagen und nur der dünne Flanell meines Pyjamas und der Baumwollstoff ihres Schlüpfers zwischen uns war. Sie flüsterte: »Es ist nichts, es ist alles gut, lass dich einfach fallen«, aber trotz dieser Worte, die unter anderen Umständen vielleicht Trost gewesen wären, wusste ich genau, was nun eigentlich hätte kommen müssen: dass alles Blut in mein Geschlecht strömte und ich spürte, wie es zu pochen begann; dass der Pulsschlag stärker wurde, der Penis anschwoll; ich den Kopf hob und ihren Mund suchte, oder meine Lippen abwärts glitten zu ihrem Busen; dass ich mich mit kreisenden Hüften an sie drängte; sie unter mir auf das Bett drückte und sie nahm, stumm, in einer Stille, die nur von den Schreien unserer Lust - dieser für Männer und Frauen einzigartigen Lust - beim Orgasmus durchbrochen wurde, und dass wir natürlich gleichzeitig kamen. Gleichzeitig. Alles andere wäre meiner Männlichkeit unwürdig gewesen.
Aber so kam es natürlich nicht. Wie denn auch, da ich doch das bin, was ich bin?
Und was ist das?, fragen Sie.
Eine leere Hülle, Dr. Rose. Nein, nicht einmal das. Jetzt, wo mir die Musik genommen ist, bin ich nur noch ein Nichts.
Libby begreift das nicht, weil sie nicht sehen kann, dass ich bis zu dem Tag in der Wigmore Hall die Musik war, die ich spielte. Ich war bloß die Erweiterung des Instruments, und nur durch das Instrument existierte ich.
Sie sagen erst mal gar nichts, Dr. Rose. Sie sehen mich an - manchmal frage ich mich, wieviel Disziplin nötig ist, jemanden anzusehen, der so offensichtlich nicht einmal mit Ihnen in einem Raum ist - und machen ein nachdenkliches Gesicht. Aber ihre Augen spiegeln noch etwas anderes als Nachdenklichkeit. Ist es Mitleid? Verwirrung? Zweifel? Frustration?
Unbewegt sitzen Sie da im Schwarz Ihrer Trauer. Sie betrachten mich über den Rand Ihrer Teetasse hinweg. Was rufen Sie in Ihrem Traum?, fragen Sie. Was rufen Sie, Gideon, als Libby Sie weckt.
Mama.
Aber das wussten Sie natürlich schon, bevor Sie fragten.
10. Oktober
Dank der Zeitungen im Archiv der Presseagentur habe ich meine Mutter jetzt klar vor mir. Ich sah sie flüchtig - auf der Seite gegenüber von Sonias Foto -, bevor ich das Sensationsblatt wegstieß. Ich wusste, dass die Frau meine Mutter war, weil sie am Arm meines Vaters ging, weil sie beide vor dem Old Bailey aufgenommen waren; weil die Schlagzeile über dem Foto in riesigen Lettern »Gerechtigkeit für Sonia« forderte.
Nun sehe ich sie also vor mir. Bisher war sie nur ein Schemen. Ich sehe ihr blondes Haar, die Konturen ihres Gesichts, die Form ihres Kinns, das, scharf geschnitten, von den leicht gekrümmten Unterkieferknochen zur Spitze gebildet wird. In eine schwarze Hose und einen weichen grauen Pulli gekleidet, kommt sie in mein Zimmer, wo Sarah-Jane mir eine Geografiestunde gibt. Wir nehmen gerade den Amazonas durch, der sich einer gewaltigen Schlange gleich sechstausendfünfhundert Kilometer von den Anden durch Peru und Brasilien windet bis zu dem endlosen Atlantischen Ozean.
Meine Mutter erklärt Sarah-Jane, dass sie die Stunde abbrechen muss, und ich sehe Sarah-Jane an, dass ihr das gar nicht passt; ihre Lippen werden zu einem schmalen Strich, obwohl sie höflich sagt: »Natürlich, Mrs. Davies«, und unsere Bücher zuklappt.
Ich folge meiner Mutter. Wir gehen die Treppe hinunter, sie führt mich ins Wohnzimmer, wo ein Mann wartet, ein großer, kräftiger Mann mit buschigem, rotblondem Haar.
Meine Mutter erklärt mir, dass er von der Polizei ist und mir einige Fragen stellen möchte, ich brauche aber keine Angst zu haben, sie werde bei mir im Zimmer bleiben. Sie setzt sich aufs Sofa und klopft neben ihrem Oberschenkel auf das Polster. Und als ich mich zu ihr setze, legt sie mir den Arm um die Schultern. Ich spüre, dass sie zittert, als sie sagt: »Bitte, fangen Sie an, Inspector.«
Sie hat vermutlich seinen Namen genannt, aber ich kann mich nicht an ihn erinnern. Ich erinnere mich jedoch, dass er einen Sessel ganz dicht zu uns heranzieht und sich vorbeugt. Er hat die Ellbogen auf die Knie gestützt und die Arme erhoben, sodass er das Kinn auf den ausgestreckten Daumen ruhen lassen kann. Ich rieche Zigarren. Der Qualm
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