11 - Nie sollst Du vergessen
Pub, und sie bemühte sich, ihren Schritt dem seinen anzupassen.
Ich habe ein Musikstück ausgewählt, das Raphael mir ans Herz gelegt hat, und höre es mir gerade an, als mein Vater hereinkommt. Ich versuche, die Töne nicht nur zu hören, sondern zu empfinden, denn nur, wenn ich sie empfinde, werde ich sie meinem Instrument entlocken können.
Ich hocke in einer Ecke des Zimmers auf dem Fußboden. Mein Vater kommt zu mir und kauert vor mir nieder. Die Musik umspült uns. Wir leben in der Musik, bis der Satz zu Ende ist. Mein Vater schaltet die Stereoanlage aus. »Komm zu mir, mein Sohn«, sagt er und setzt sich auf das Bett.
Ich trete vor ihn hin.
Er sieht mich forschend an. Am liebsten würde ich mich diesem Blick entziehen, aber ich tue es nicht. Er sagt: »Du lebst doch für die Musik, nicht wahr?«, und dabei streicht er mir mit der Hand übers Haar. »Konzentriere dich auf die Musik, Gideon, nur auf die Musik und nichts sonst.«
Ich nehme seinen Geruch wahr: Zitrone und Wäschestärke, ganz anders als der Zigarrengeruch. »Er hat mich gefragt, wie Sosy gestorben ist«, sage ich.
Mein Vater zieht mich an sich und hält mich im Arm. »Sie ist jetzt weg«, sagt er. »Niemand kann dir etwas antun.«
Er spricht von Katja. Ich habe sie fortgehen hören. Ich habe sie in Begleitung der Nonne gesehen, vielleicht ist sie also ins Kloster zurückgekehrt. Niemand bei uns erwähnt ihren Namen, so wenig wie Sonias. Es sei denn, der Polizeibeamte spricht über eine von ihnen.
»Er hat gesagt, dass jemand Sosy wehgetan hat«, berichte ich.
Mein Vater sagt: »Denk an die Musik, Gideon. Höre und übe, mein Junge. Mehr verlangt im Moment keiner von dir.«
Aber er täuscht sich. Der Polizeibeamte bittet ihn, mich aufs Revier in der Earl's Court Road zu bringen, wo wir in einen kleinen, hell erleuchteten Raum geführt werden. Dort erwartet uns eine Frau, die einen Anzug trägt wie ein Mann und wachsam auf die Fragen hört, die mir gestellt werden, wie eine Hüterin, die eigens dazu da ist, um mich zu beschützen. Die Fragen stellt mir der rothaarige Polizeibeamte selbst.
Was er wissen wolle, sagt er, sei ganz einfach. »Du kennst doch Katja Wolff, nicht wahr, mein Junge?« Ich blicke von meinem Vater zu der fremden Frau. Sie trägt eine Brille, und wenn das Licht auf die Gläser fällt, blitzen diese auf und man kann die Augen der Frau nicht sehen.
Mein Vater sagt: »Natürlich kennt er Katja Wolff. Er ist kein Idiot. Kommen Sie zur Sache.«
Der Polizeibeamte lässt sich nicht drängen. Er spricht mit mir, als wäre mein Vater gar nicht da. Er fragt nach Sosys Geburt, nach Katjas Ankunft in unserem Haus, nach der Betreuung von Sosy. An dieser Stelle protestiert mein Vater. »Wie soll ein Achtjähriger derartige Fragen beantworten können?«
Der Polizeibeamte erwidert, mein Vater werde sich wundern, Kinder seien gute Beobachter, und ich könne zweifellos mehr erzählen, als er für möglich halte.
Man hat mir eine Dose Cola auf den Tisch gestellt und einen Keks mit Nüssen und Rosinen dazugelegt. Die Dose ist außen beschlagen, und ich zeichne mit dem Finger ein dreiblättriges Kleeblatt in den Feuchtigkeitsfilm. Wegen dieses Besuchs auf der Polizeidienststelle kann ich an diesem Morgen nicht wie gewohnt meine drei Stunden Geige üben. Das macht mich unruhig, nervös, schwierig. Und ich habe ohnehin Angst.
Wovor?, fragen Sie mich.
Vor den Fragen; davor, die falschen Antworten zu geben; vor der Spannung, die ich bei meinem Vater spüre und die mir jetzt, wenn ich darüber nachdenke, im Vergleich zum Schmerz meiner Mutter völlig unangemessen erscheint. Hätte er nicht niedergeschmettert sein müssen vor Kummer, Dr. Rose? Hätte er nicht wenigstens verzweifelt versuchen müssen zu klären, was Sonia zugestoßen war? Aber von Schmerz merkt man nichts bei ihm, und wenn so etwas wie verzweifeltes Bemühen da ist, dann scheint es aus einer inneren Angst geboren, die er keinem erklärt hat.
Beantworten Sie die Fragen trotz Ihrer Furcht?, fragen Sie.
So gut ich kann, ja. Sie führen mich noch einmal durch die zwei Jahre, als Katja Wolff bei uns gelebt hat. Aus irgendeinem Grund konzentrieren sie sich vor allem auf Katjas Beziehung zu James, dem Untermieter, und SarahJane Beckett. Aber schließlich wenden sie sich der Betreuung Sonias zu, und hierbei einem speziellen Punkt.
»Hast du einmal gehört, dass Katja deine kleine Schwester angeschrien hat?«, fragt der Polizeibeamte.
Nein, nie.
»Hast du irgendwann einmal
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