11 - Nie sollst Du vergessen
mit der Absicht nach Henley gekommen, ihm Bericht zu erstatten. »Es ist noch zu früh, um irgendwelche Schlüsse zu ziehen, Major Wiley«, sagte er. »Wir stehen ja noch ganz am Anfang unserer Ermittlungen.«
»Eines weiß ich jedenfalls«, erklärte Wiley. »Je länger sich diese Sache in die Länge zieht, desto unwahrscheinlicher wird es, dass Sie das Schwein fassen. Sie müssen doch Anhaltspunkte haben. Einen Verdacht. Irgendetwas.«
Lynley hielt ihm die Fotografie von Katja Wolff hin. »Haben Sie diese Frau schon einmal gesehen? Hier in der Gegend vielleicht. Oder irgendwo anders im Ort?«
Wiley griff in die Brusttasche seines Jacketts und zog eine dunkle Hornbrille heraus, die sehr schwer wirkte. Mit einer Hand klappte er sie auf und setzte sie auf seine große, rote Nase. Gut fünfzehn Sekunden lang musterte er das Bild Katja Wolffs mit zusammengekniffenen Augen, bevor er sagte: »Wer ist das?«
»Sie heißt Katja Wolff. Das ist die Frau, die Eugenie Davies' Tochter ertränkt hat. Kennen Sie sie?«
Noch einmal betrachtete Wiley das Bild. Sein Gesichtsausdruck verriet, wie gern er diese Frau wiedererkannt hätte, vielleicht um der Qual des Nichtwissens, wer die Frau, die er geliebt hatte, überfahren und getötet hatte, ein Ende zu machen, vielleicht aber auch aus einem ganz anderen Grund. Schließlich schüttelte er den Kopf und gab Lynley das Foto zurück.
»Was ist mit dem Kerl?«, fragte er. »Mit dem Audi. Er war wütend, sage ich Ihnen. Völlig außer sich. Das war deutlich zu sehen. Und wie er dann davongebraust ist ... Er war genau der Typ, der den Kopf verliert und gewalttätig wird. Wehe, er bekommt nicht, was er will, dann schlägt er zu. Und zurück bleibt meistens eine Leiche. Oder mehrere. Sie wissen, was ich meine. Hungerford. Dunblane.«
»Wir haben ihn nicht ausgeschlossen«, sagte Lynley.
»Die Kollegen in London überprüfen sämtliche AudiBesitzer in Brighton. Wir müssten eigentlich bald etwas Konkretes haben.«
Wiley brummte und nahm seine Brille ab.
»Sie haben uns erzählt«, sagte Lynley, »dass Mrs. Davies etwas mit Ihnen besprechen wollte. Wenn ich Sie recht verstanden habe, sagte sie ausdrücklich, sie habe Ihnen etwas mitzuteilen. Haben Sie eine Ahnung, worum es sich gehandelt haben könnte, Major Wiley?«
»Nein.« Wiley griff nach einer nächsten Ladung Bücher. Er überprüfte die Schutzumschläge, ging sogar so weit, jedes Einzelne aufzuschlagen und mit den Fingern über die Innenklappe zu streichen, als suchte er nach Mängeln.
Lynley dachte derweilen über die Tatsache nach, dass ein Mann es im Allgemeinen spürt, wenn die Frau, die er liebt, seine Gefühle nicht erwidert. Genau wie ein Mann wahrnimmt - gar nicht umhin kann, es wahrzunehmen -, wenn die Leidenschaft der Frau, die er liebt, zu erkalten beginnt. Manchmal macht er sich etwas vor, leugnet die Tatsachen bis zu dem Moment, wo er nicht mehr lügen oder fliehen kann. Aber im Unterbewussten weiß er schon lange, dass etwas nicht stimmt. Es offen auszusprechen, allerdings, ist qualvoll. Und manche Männer sind nicht bereit, solche Qual auf sich zu nehmen, und wählen einen anderen Weg, um mit den Gegebenheiten fertig zu werden.
»Major Wiley«, sagte Lynley. »Sie haben gestern die Mitteilungen auf Mrs. Davies' Anrufbeantworter gehört. Sie haben die Männerstimmen gehört. Es wird Sie daher sicher nicht überraschen, wenn ich frage, ob Sie es für möglich halten, dass Mrs. Davies neben der Beziehung zu Ihnen noch eine andere unterhielt und eventuell darüber mit Ihnen sprechen wollte.«
»Ja, daran habe ich gedacht«, sagte Wiley leise. »Ich habe keinen anderen Gedanken mehr im Kopf seit - ach, verdammt!« Er schüttelte den Kopf und schob eine Hand in seine Hosentasche, um ein Taschentuch herauszuholen. Er schnauzte sich so laut, dass die lesende Frau hinten im Sessel den Kopf hob. Sie schaute sich um, bemerkte Lynley und Barbara Havers und sagte: »Major Wiley? Ist alles in Ordnung?«
Er nickte, hob beschwichtigend eine Hand und drehte sich so, dass sie sein Gesicht nicht sehen konnte. Ihr schien diese Antwort zu genügen, denn sie wandte sich wieder ihrer Lektüre zu, als Wiley mit gesenkter Stimme zu Lynley sagte: »Ich komme mir wie ein Vollidiot vor.«
Lynley wartete auf mehr. Barbara klopfte mit dem Bleistift auf ihr Heft und runzelte die Stirn.
Wiley nahm all seine Entschlossenheit zusammen und berichtete ihnen, was für ihn offensichtlich das Schlimmste war: von den Abenden, die er damit
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