11 - Nie sollst Du vergessen
Autoscheinwerfer über sie hinwegglitten und ihr sagten, dass hinter ihr ein Fahrzeug in die Straße eingebogen war. Es fuhr langsam, so langsam, wie auch sie gefahren war, offensichtlich wie sie selbst noch vor wenigen Minuten auf der Suche nach einem Parkplatz. Sie drehte sich kurz um und trat an das nächststehende Fahrzeug, um den Wagen vorbeizulassen. Aber der Fahrer zog zur Seite und gab ihr mit der Lichthupe Zeichen, dass sie weitergehen könne.
Irrtum, dachte sie, schulterte ihren Schirm und setzte ihren Weg fort. Der Fahrer suchte gar nicht nach einem Parkplatz, sondern wartete offenbar auf einen Bewohner des Hauses, vor dem er angehalten hatte. Sie warf noch einmal einen schnellen Blick über die Schulter zurück, und als hätte der fremde Fahrer ihre Gedanken gelesen, hupte er einmal kurz. Es klang, fand Eugenie, wie die ungeduldige Mahnung einer Mutter oder eines Vaters an ein widerspenstiges Kind.
Sie ging weiter und achtete auf die Nummern der Häuser, an denen sie vorüberkam. Sie war bei Nummer zehn und Nummer zwölf - kaum sechs Häuser von ihrem Auto entfernt -, als das bisher stetige Licht hinter ihr plötzlich zur Seite schwenkte und dann erlosch.
Seltsam, dachte sie, man kann doch nicht einfach mitten auf der Straße parken, und sah sich um.
Grelle Lichter flammten auf. Sie war augenblicklich geblendet. Und geblendet blieb sie wie gebannt stehen.
Ein Motor heulte auf, Reifen glitten quietschend über den Asphalt.
Mit weit ausgebreiteten Armen wurde sie in die Luft geschleudert, als der Wagen sie erwischte, und das Bild in seinem schlichten Rahmen schoss in die Höhe wie eine Rakete.
2
J. W. Pitchley, alias Die Zunge, hatte einen höchst gelungenen Abend hinter sich. Er hatte Regel Nummer eins gebrochen - verabrede dich niemals persönlich mit einem Cybersexpartner -, aber es hatte alles bestens geklappt, und er hatte wieder einmal den Beweis dafür bekommen, dass er ein messerscharfes Gespür für den unvergleichlichen Genuss der überreifen Früchte besaß, die gerade, weil sie so lange unbeachtet am Baum gehangen hatten, umso saftiger waren.
Bescheidenheit und Ehrlichkeit zwangen ihn allerdings zu dem Eingeständnis, dass er in diesem Fall nicht viel riskiert hatte. Eine Frau, die sich Sahnehöschen nannte, ließ ja kaum Zweifel daran, was sie wollte. Und alle noch vorhandene Unsicherheit seinerseits war durch fünf Online-Rendezvous, bei denen er sich in seine Calvin-Klein-Jockeys ergossen hatte, ohne einen Finger rühren zu müssen, beseitigt worden. Im Gegensatz zu den vier anderen Cybergespielinnen, zu denen er gegenwärtig Kontakt hatte und deren orthografischen Kenntnisse bedauerlicherweise meist so beschränkt waren wie ihre Fantasie, verfügte das Sahnehöschen, wie sie sich gern nannte, über einen Einfallsreichtum und eine natürliche Fähigkeit, ihre Fantasien in Worte zu fassen, dass sich sein Schwanz wie eine Wünschelrute aufstellte, sobald sie einloggte.
Sahnehöschen hier, pflegte sie zu schreiben. R U rdy 4 it, Zungenmann?, hast du Lust?
Aber ja. Aber ja. Lust hatte er immer.
Und diesmal hatte er sogar selbst den sprichwörtlichen Sprung ins kalte Wasser gewagt und nicht erst auf die Initiative der anderen Seite gewartet. Das war total untypisch für ihn. Im Allgemeinen machte er bereitwillig jedes Spiel mit und war online stets verfügbar, wenn eine seiner Partnerinnen ein bisschen Action wünschte, aber die persönliche Begegnung anzuregen, das überließ er gewöhnlich den Damen. Diesem Prinzip treu, hatte er dafür gesorgt, dass siebenundzwanzig Super-Highway-Begegnungen zu siebenundzwanzig ungemein befriedigenden körperlichen Begegnungen im Comfort Inn in der Cromwell Road geführt hatten - in kluger Entfernung von seiner Wohnung und beobachtet einzig von einem Nachtportier asiatischer Herkunft, dessen Interesse an Gesichtern weit hinter seiner Leidenschaft für Videos alter BBC-Historienschinken zurückstand. Nur einmal war er zum Opfer eines Cyberstreichs geworden, als ihn bei einer Verabredung statt der Frau, die sich TrauDich genannt hatte, zwei pickelige Zwölfjährige, angezogen wie die Kray-Brüder, erwartet hatten. Aber kein Problem. Den beiden hatte er gründlich den Kopf gewaschen, die würden solche Dummheiten wahrscheinlich so bald nicht wieder machen.
Doch Sahnehöschen faszinierte ihn. Hast du Lust?
Sie hatte es geschafft, ihn beinahe von Anfang an neugierig zu machen. Konnte sie mit dem Körper erfüllen, was ihr Cyberego mit Worten
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