11 - Nie sollst Du vergessen
St. James den Internetgebrauch der Toten mit gewohnter Genauigkeit überprüft hatte. Jede Site schien -z umindest dem Namen nach - mit ihrer Tätigkeit als Leiterin des Sixty Plus Club zu tun zu haben, ob es sich nun um die Internetadresse einer Abteilung des nationalen Gesundheitsdiensts oder eines Reisebüros, das auf Seniorenbusreisen spezialisiert war, handelte. Sie schien außerdem in Zeitungsarchiven herumgestöbert zu haben, vor allem denen der Daily Mail und des Independent. Diese Website hatte sie regelmäßig aufgesucht, häufiger in den vergangenen vier Monaten. Möglicherweise war das eine Bestätigung für Richard Davies' Behauptung, sie hätte versucht, sich anhand der Zeitungen über das Befinden ihres Sohnes zu informieren.
»Nein, das ist keine Hilfe«, meinte Lynley zustimmend.
»Aber vielleicht gibt's hier Hoffnung.« St. James reichte ihm die Papiere, die er in der Hand behalten hatte. »Ihre E-Mails.«
»Wie viele davon?«
»Alle. Von dem Tag an, als sie anfing, online zu korrespondieren.«
»Sie hatte das alles gespeichert?«
»Nicht absichtlich.«
»Was heißt das?«
»Das heißt, dass die Leute sich im Internet zu schützen versuchen, es aber nicht immer klappt. Sie nehmen Passwörter, die für jeden, der sie kennt, mit Leichtigkeit zu erraten sind -«
»Wie sie, als sie Sonia wählte.«
»Richtig. Das ist der erste Fehler, den sie machen. Der zweite ist, dass sie es versäumen, zu prüfen, ob ihr Computer konfiguriert ist, alle eingehenden E-Mails zu speichern. Sie bilden sich ein, alles, was sie tun, geschähe unter dem Ausschluss der Öffentlichkeit, aber in Wirklichkeit ist ihre Welt ein offenes Buch für jedermann, der weiß, welche Symbole welche Seiten öffnen. In Mrs. Davies' Fall hat der Computer alle eingehende Post in den Papierkorb befördert, sobald sie die Nachrichten löschte, aber bis zu dem Zeitpunkt, wo sie den Papierkorb selbst leerte - was sie offenbar nicht ein einziges Mal getan hat -, blieben die Nachrichten einfach dort gespeichert. Das kommt ständig vor. Man drückt auf die Löschtaste und meint, damit wäre die betreffende Nachricht oder was immer aus der Welt, aber in Wirklichkeit hat der Computer sie nur an eine andere Position verlagert.«
»Dann ist das hier alles?« Lynley wies auf das Bündel Papiere.
»Die gesamte Post, die sie erhalten hat, ja. Helen hat alles ausgedruckt. Sag schön danke. Sie hat die Mitteilungen durchgesehen und, um mir Zeit zu sparen, diejenigen angemerkt, die wahrscheinlich geschäftlicher Art sind. Den Rest wirst du dir genauer ansehen müssen.«
»Danke dir, Darling«, sagte Lynley zu seiner Frau, die an einem Scone knabberte. Er blätterte das dünne Bündel Papiere durch und legte alle Ausdrucke, die Helen angemerkt hatte, auf die Seite. Die übrigen Mitteilungen las er in chronologischer Reihenfolge durch, wobei er genau prüfte, ob sie irgendetwas enthielten, was verdächtig wirkte; irgendeine Andeutung, dass jemand Eugenie Davies Böses gewollt hatte. Gleichzeitig achtete er darauf - wovon er allerdings nichts verlauten ließ -, ob etwas von Webberly dabei war, vielleicht eine Mitteilung jüngeren Datums, die den Superintendent in eine peinliche Lage hätte bringen können.
Einige der Absender benutzten nicht ihre eigenen Namen, sondern Pseudonyme, die sich aber offensichtlich auf ihr Arbeitsgebiet oder ihre besonderen Interessen bezogen, und es war für Lynley eine Erleichterung, festzustellen, dass unter diesen Decknamen keiner war, hinter dem man ohne weiteres seinen Vorgesetzten in Scotland Yard hätte vermuten können. Auch eine Scotland-Yard-Adresse erschien nirgends.
Aufatmend las er weiter. Unter den Absendern war keiner, der mit Die Zunge, Pitchley oder Pitchford gezeichnet hatte. Und bei einer zweiten Prüfung der Liste mit den von Eugenie Davies aufgesuchten Internetadressen, die St. James ihm zuerst gegeben hatte, gewann er nicht den Eindruck, dass eine von ihnen eine raffinierte Deckadresse für einen Chatroom war, wo Rendezvous zum anonymen Sex arrangiert wurden. Ob man allerdings daraufhin Die Zunge, Pitchley-Pitchford, aus dem Kreis der Verdächtigen streichen konnte, war fraglich.
Als er sich von neuem dem E-Mail-Bündel zuwandte, sagte Helen, die zusammen mit St. James schon wieder über den Diagrammen saß, mit denen die beiden bei Lynleys Ankunft beschäftigt gewesen waren: »Die letzte E-Mail kann übrigens am Morgen ihres Todestages, Tommy. Sie liegt ganz unten im Stapel. Sieh sie dir mal an.
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