11 - Nie sollst Du vergessen
»Wirklich gesehen habe ich nichts, nein ...«, »Ja, natürlich gab es Augenblicke der Spannung, wenn sie mit dem Kind zu tun hatte ...«, »Sie war nicht immer so geduldig, wie sie vielleicht hätte sein sollen, aber die Umstände waren ja auch wirklich schwierig ...«, »Anfangs war sie die Gefälligkeit selbst ...«, »Es gab Streit zwischen ihr und den Eltern, weil sie wieder verschlafen hatte ...«, »Wir hatten beschlossen, sie zu entlassen ...«, »Sie fand das nicht fair ...«, »Wir waren nicht bereit, ihr ein Zeugnis zu geben, weil wir nicht der Meinung waren, sie sei für die Kinderpflege die geeignete Person ...« Aus den Aussagen der anderen Hausbewohner ergab sich ein Muster, das von Katja Wolff selbst weder bestätigt noch widerlegt wurde. Mit dem Muster bildete sich die Geschichte, ein Flickenteppich aus Gesehenem und Gehörtem und den Schlussfolgerungen, die sich daraus ziehen ließen.
»Besonders überzeugend sind die Argumente trotzdem nicht«, hatte Leach in einer Pause während der Verhandlung vor dem Haftrichter gesagt.
»Aber es sind Argumente«, hatte Webberly entgegnet. »Solange sie den Mund nicht aufmacht, nimmt sie uns die Hälfte der Arbeit ab und legt sich gleich selbst die Schlinge um den Hals. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ihr Anwalt ihr das nicht klar gemacht hat.«
»Die Presse reißt sie in Fetzen, Sir. Die Zeitungen berichten wortwörtlich über das Verfahren, und jedes Mal, wenn Sie auf Fragen nach Gesprächen mit ihr sagen: ›Sie lehnte es ab, die Frage zu beantworten‹, steht sie da wie -«
»Was soll der Quatsch, Eric?«, hatte Webberly ihn unterbrochen. »Was die Presse druckt, kann ich nicht ändern, und es ist auch nicht unser Problem. Wenn sie sich sorgt, wie ihr Schweigen auf die Geschworenen wirken wird, falls es zum Prozess kommen sollte, braucht sie doch nur den Mund aufzumachen.«
Ihre Sorge und Aufgabe, sagte er zu Leach, müsse es sein, für die Gerechtigkeit einzutreten, Fakten zu präsentieren, die es dem Richter ermöglichen würden, ihre Inhaftierung bis zum Prozessbeginn zu verfügen. Und das hatte Webberly getan. Das war alles, was er getan hatte. Er hatte dafür gesorgt, dass der Familie der kleinen Sonia Davies Gerechtigkeit zuteil wurde. Frieden oder ein Ende ihrer Albträume hatte er ihnen nicht bringen können. Aber wenigstens für Gerechtigkeit hatte er gesorgt.
Während er jetzt mit einer Tasse Horlicks am Küchentisch in seinem Haus in Stamford Brook saß, ließ er sich alles, was er bei diesem späten Telefongespräch von Tommy Lynley erfahren hatte, durch den Kopf gehen. Zu einer Neuigkeit kehrte er immer wieder zurück - dass Eugenie Davies einen Mann gefunden hatte. Er war froh darüber. Vielleicht würde ihm das die tägliche Scham und Reue über sein feiges Verhalten ihr gegenüber etwas erträglicher machen.
Er hatte nur die besten Absichten gehabt, bis zu dem Tag, an dem ihm klar geworden war, dass ihre Beziehung keine Zukunft hatte. Kennen gelernt hatte er sie im Rahmen seiner beruflichen Tätigkeit, und ihre Beziehung war rein sachlich gewesen. Als sich das nach der zufälligen Begegnung am Paddington-Bahnhof zu ändern begann, hatte er sich zunächst bloß als Freund gesehen und sich, indem er die erwachenden Wünsche unterdrückte, einzureden versucht, dass es dabei bleiben könnte. Sie ist verletzlich, hatte er sich in dem erfolglosen Bemühen, seine Gefühle zu beherrschen, vorgehalten. Sie hat ein Kind verloren, ihre Ehe ist in die Brüche gegangen - so eine Situation darf man nicht ausnützen.
Hätte nicht sie ausgesprochen, was besser unausgesprochen geblieben wäre, er hätte nicht mehr gewagt. Zumindest sagte er sich das während ihrer langen Beziehung immer wieder. Sie wünscht dies so sehr wie ich, argumentierte er, und es gibt Augenblicke im Leben, wo man die Fesseln gesellschaftlicher Konvention sprengen muss, um das vom Schicksal Gegebene anzunehmen.
Eine heimliche Beziehung wie die zwischen ihm und Eugenie war für ihn nur aus spirituellen Gründen zu rechtfertigen. Sie macht mich vollständig, sagte er sich. Was ich mit ihr erlebe, spielt sich auf seelischer Ebene ab und nicht nur auf körperlicher. Und wie soll ein Mensch zu einem erfüllten Leben finden, wenn seine Seele keine Nahrung bekommt?
Seine Frau konnte ihm diese Nahrung nicht geben. Die Beziehung zu ihr war eine absolut prosaische, materielle Angelegenheit, so sagte er sich, ein gesellschaftlicher Vertrag, der auf der reichlich überholten
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