11 - Nie sollst Du vergessen
befragen. Ich prüfe die Motive, die mich zur Verschiebung, wie Sie es nennen würden, veranlassen könnten, und bekenne mich zur allen meinen Ängsten.
Was sind das für Ängste?, fragen Sie.
Das wissen Sie doch bereits, Dr. Rose.
Ich vermute, entgegnen Sie, ich ziehe in Betracht, ich mutmaße, und ich mache mir Gedanken, aber ich weiß gar nichts.
Na schön. Ich bin bereit, das zu akzeptieren. Und zum Beweis dafür, werde ich sie Ihnen aufzählen: Angst vor Menschenmengen, Angst davor, in der Untergrundbahn eingeschlossen zu werden, Angst vor hohen Geschwindigkeiten, Todesangst vor Schlangen.
Alles ziemlich verbreitete Ängste, stellen Sie fest.
Genau wie Versagensangst, Angst vor der Missbilligung meines Vaters, Angst vor geschlossenen Räumen - Da ziehen Sie eine Augenbraue hoch, vergessen einen Moment die Maske der Neutralität.
Ja, geschlossene Räume sind mir ein Gräuel, und mir ist natürlich klar, was das in Bezug auf meine Bereitschaft, Beziehungen einzugehen, bedeutet, Dr. Rose. Ich habe Angst davor, vom anderen erstickt zu werden, und diese Angst weist auf eine weiter gehende Angst vor Nähe hin - zu Frauen, zu Menschen überhaupt. Aber das ist mir nicht neu. Ich habe Jahre lang Zeit gehabt, darüber nachzudenken, wie und warum und an welchem Punkt genau meine Affäre mit Beth in die Brüche gegangen ist, und ich mache mir natürlich Gedanken über meinen Mangel an körperlichen Reaktionen bei Libby. Aber wenn ich mir meiner Ängste bewusst bin und mich zu ihnen bekenne, wenn ich sie ans Tageslicht hole und ausschüttle wie Staubtücher, wie können dann Sie oder mein Vater oder sonst jemand mich beschuldigen, ich verlegte mich, statt meinen Ängsten ins Auge zu sehen, auf ein ungesundes Interesse am Tod meiner Schwester und an den ihn umgebenden Ereignissen?
Ich beschuldige Sie nicht, Gideon, sagen Sie, die Hände im Schoß gefaltet. Ist es vielleicht so, dass Sie selbst sich beschuldigen?
Wessen denn?
Vielleicht können Sie mir das sagen.
Ach, was sollen diese Spielchen? Ich weiß genau, in welche Richtung Sie mich drängen wollen. In dieselbe wie alle anderen - außer Libby. Es geht doch nur um die Musik, Dr. Rose. Ich soll über die Musik sprechen. Ich soll eintauchen in dieses Thema.
Nur wenn Sie es wollen, entgegnen Sie.
Und wenn ich nicht will?
Dann könnten wir darüber sprechen, warum nicht.
Na bitte! Sie wollen mich reinlegen. Wenn Sie mich dazu bringen können, zuzugeben ...
Was?, fragen Sie, als ich zögere, und Ihre Stimme ist so sanft wie Flaum. Bleiben Sie bei der Angst, ermahnen Sie mich. Angst ist nur ein Gefühl - sie ist keine Tatsache.
Aber Tatsache ist, dass ich nicht spielen kann. Und die Angst ist die vor der Musik.
Vor jeder Art von Musik?
Ach, die Antwort darauf wissen Sie doch, Dr. Rose. Sie wissen, dass es die Angst vor einem Musikstück im Besonderen ist. Sie wissen, dass das Erzherzog-Trio mich schon mein Leben lang verfolgt. Und Sie wissen, dass ich nicht ablehnen konnte, als Beth es zur Aufführung vorschlug. Eben weil Beth den Vorschlag machte. Hätte Sherill ihn gemacht, so hätte ich ohne Bedenken ganz einfach sagen können: »Such was anderes aus.« Er hätte sich wahrscheinlich über meine Ablehnung gewundert, weil es für ihn so etwas wie ein Unglücksstück nicht gibt, aber bei seinem Talent wäre es überhaupt kein Problem für ihn gewesen, von einem Stück auf ein anderes umzuschwenken, und er hätte es wahrscheinlich nur als Energieverschwendung betrachtet, meine Entscheidung zu hinterfragen. Aber Beth ist anders als Sherill, Dr. Rose, nicht in Bezug auf ihr Talent, sondern in ihrer ganzen Lebenseinstellung. Beth hatte das Erzherzog-Trio schon vorbereitet. Sie hätte Fragen gestellt. Sie hätte vielleicht hinter meiner Ablehnung meine Versagensangst entdeckt und die Verbindung zu meinem Versagen auf einem anderen Gebiet hergestellt, das sie nur zu gut kannte. Deshalb bat ich nicht darum, ein anderes Stück aufs Programm zu setzen. Ich beschloss, der Angst ins Auge zu sehen. Ich habe es darauf ankommen lassen, und ich bin gescheitert.
Und vorher?, fragen Sie.
Vorher?
Vor dem Auftritt in der Wigmore Hall. Sie haben doch geprobt.
Ja. Natürlich.
Und da haben Sie das Stück gespielt?
Wir hätten ja wohl kaum ein öffentliches Konzert angekündigt, wenn einer von uns - Sie hatten keine Schwierigkeiten, es zu spielen? Bei den Proben, meine ich.
Ich habe das Stück nie ohne Schwierigkeiten gespielt, Dr. Rose, sei es bei mir zu Hause oder bei
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