11 - Nie sollst Du vergessen
jenen Ausdruck von Selbstgefälligkeit, der sich bei Männern offenbar einzustellen pflegt, wenn sie es geschafft haben, Nachkommen in die Welt zu setzen. Die älteren Mädchen wirkten zu Tode gelangweilt, die jüngeren sahen sympathisch aus, und Sarah-Jane schien hoch zufrieden zu sein.
Sie kam aus der Küche zurück, und ich stellte das Foto wieder auf den Tisch, von dem sie es genommen hatte.
»Als Stiefmutter«, bemerkte sie, »geht es einem ähnlich wie als Lehrerin: Man muss ständig ermutigen, aber man darf sich nicht die Freiheit nehmen, zu sagen, was man wirklich denkt. Und ständig machen einem die Eltern zu schaffen, in diesem Fall die Mutter. Sie trinkt leider.«
»War es bei mir auch so?«
»Um Gottes willen, Ihre Mutter hat doch nicht getrunken.«
»Ich meinte, dass man nicht die Freiheit hat, zu sagen, was man denkt.«
»Man lernt Diplomatie«, antwortete sie. »Das ist meine kleine Angelique.« Sie deutete auf das Kind auf Perrys Schoß. »Und das ist Anastasia. Sie ist übrigens musikalisch nicht unbegabt.«
Ich wartete darauf, dass sie mir auch die älteren Mädchen vorstellen würde, aber das tat sie nicht. So fragte ich schließlich pflichtschuldig, was für ein Instrument Anastasia denn spiele. Die Harfe, wurde mir geantwortet, und ich dachte, sehr passend. Sarah-Jane hatte immer ein wenig wie eine Jane-Austen-Figur gewirkt, die sich im Jahrhundert geirrt hatte, viel eher dazu geschaffen, in stiller Beschaulichkeit an ihrem Stickrahmen zu sitzen oder harmlose Aquarelle zu malen, als in der Härte und Hektik des modernen Lebens mit anderen Frauen zusammen um ihren Platz in der Gesellschaft zu kämpfen. Sarah-Jane Beckett Hamilton beim Joggen im Regent's Park mit einem Handy am Ohr? Das war mir so unvorstellbar wie Sarah-Jane Beckett Hamilton im Kampf gegen einen Großbrand, beim Kohleabbau in einem Bergwerk, als Mitglied einer Segelmannschaft bei der Fastnet-Regatta. Ganz logisch, dass sie ihre ältere Tochter lieber zur Harfe als etwa zur elektrischen Gitarre hingeführt hatte. Ich hatte keinen Zweifel, dass sie sie sehr energisch beeinflusst hatte, nachdem das Mädchen den Wunsch geäußert hatte, ein Instrument zu lernen.
»Ihnen kann sie natürlich nicht das Wasser reichen.« Sarah-Jane zeigte mir stolz ein weiteres Foto: Anastasia an der Harfe, die Arme anmutig erhoben, um mit den Fingern - die leider kurz und dick waren wie die der Mutter - in die Saiten zu greifen. »Aber sie macht ihre Sache recht gut. Ich hoffe, Sie werden sie einmal hören. Natürlich nur, wenn Sie Zeit haben.« Und sie ließ wieder ihr trällerndes Lachen erklingen. »Ach, es ist wirklich schade, dass Perry nicht hier ist, Gideon. Er hätte sich so sehr gefreut, Sie kennen zu lernen. Sind Sie hier, um ein Konzert zu geben?«
Ich verneinte kurz, ohne irgendetwas zu erklären. Sie hatte offensichtlich die Berichte über den Zwischenfall in der Wigmore Hall nicht gelesen, und mir war das nur recht. Ich wollte mich vor allem bei Sarah-Jane darüber nicht auslassen. Ich sagte einfach, dass ich gekommen sei, um mit ihr über den Tod meiner Schwester und die Gerichtsverhandlung zu sprechen.
»Ach so«, sagte sie. »Hm, ich verstehe.« Und sie setzte sich auf ein hoch aufgepolstertes Sofa von der Farbe frisch gemähten Grases und wies mich zu einem Sessel, über dessen Bezug, der in gedämpften Herbsttönen gehalten war, eine Hundemeute einem Hirsch hinterherjagte.
Ich wartete auf die logischen Fragen. Warum? Warum gerade jetzt? Warum diese alten Geschichten ausgraben, Gideon? Aber sie stellte diese Fragen nicht, und das fand ich seltsam. Vielmehr setzte sie sich auf dem Sofa ordentlich zurecht, kreuzte die Beine an den Fesseln, legte die Hände im Schoß übereinander - die Hand mit den Saphiren und Brillanten obenauf - und machte ein aufmerksames Gesicht ganz ohne eine Spur der misstrauischen Vorsicht, die ich erwartet hatte.
»Was möchten Sie denn wissen?«, fragte sie.
»Alles, was Sie mir erzählen können. Vor allem über Katja Wolff. Was für ein Mensch sie war, wie das Zusammenleben mit ihr war.«
»Ah ja. Natürlich.« Sarah-Jane saß still da und sammelte sich. Dann begann sie zu sprechen. »Nun ja, es war von Anfang an offensichtlich, dass sie als Kinderfrau für Ihre Schwester nicht geeignet war. Es war ein Fehler Ihrer Eltern, sie zu engagieren, aber das erkannten sie erst, als es zu spät war.«
»Mir hat man erzählt, dass Katja Sonia gern hatte.«
»O ja, gern gehabt hat sie die Kleine sicher.
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