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11 - Nie sollst Du vergessen

11 - Nie sollst Du vergessen

Titel: 11 - Nie sollst Du vergessen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth George
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Es war leicht, Sonia gern zu haben. Sie war sehr zart, und sie war schwierig - welches Kind in so einer Situation wäre das nicht? -, aber sie war doch sehr liebenswert. Wer würde so ein hilfloses kleines Wesen nicht gern haben? Aber um sich dem Kind wirklich mit Liebe zu widmen, hatte Katja zu viel anderes im Kopf. Und Liebe braucht man im Umgang mit Kindern, Gideon. Bloßes Gernhaben reicht nicht, wenn die ersten Wutanfälle oder Schreikrämpfe kommen.«
    »Was hatte sie denn anderes im Kopf?«
    »Es war ihr nicht ernst mit der Kinderbetreuung. Für sie war das nur ein Job, ein Mittel zum Zweck. Sie wollte Modezeichnerin werden - mir ist schleierhaft, wieso; Sie hätten die bizarren Kostümierungen sehen sollen, die sie für sich selbst zusammenstellte! - und nur so lange bei Sonia bleiben, bis sie das Geld zusammengespart hatte, das sie brauchte, um ... na ja, um ihre Ausbildung zu bezahlen. Das war das eine.«
    »Und weiter?«
    »Der Ruhm.«
    »Sie wollte berühmt werden?«
    »Sie war schon berühmt: das Mädchen, das die Berliner Mauer überwand und deren Geliebter in ihren Armen starb.«
    »In ihren Armen?«
    »Hm, naja. So hat sie es erzählt. Sie hatte ein ganzes Album mit sämtlichen Interviews, die sie den Zeitungen und Illustrierten aus aller Welt nach der Flucht gegeben hatte, und wenn man ihr glaubte, hatte sie den Ballon ganz allein entworfen und aufgeblasen, was ich, ehrlich gesagt, stark bezweifle. Ich war immer der Ansicht, sie konnte von Glück reden, dass sie diese Flucht überlebte. Wäre der Junge am Leben geblieben - wie hieß er nur gleich? Georg? Klaus? -, so hätte er zweifellos ganz anders darüber berichtet, wer die Idee gehabt und die Arbeit gemacht hatte. Sie hielt sich bereits für etwas Besonderes, als sie nach England kam, und hier wurde sie noch überheblicher - erneute Interviews, Mittagessen mit dem Bürgermeister, eine Privataudienz im Buckingham-Palast.
    Sie war rein psychologisch überhaupt nicht gerüstet, als Betreuerin Ihrer kleinen Schwester wieder in der Versenkung zu verschwinden. Und sie war auch körperlich und mental nicht auf die Verantwortung vorbereitet, die da auf sie zukam. Sie war ganz einfach nicht für diese Arbeit geeignet. Überhaupt nicht.«
    »Sie musste also versagen«, sagte ich leise, und es klang wahrscheinlich spekulativ, denn Sarah-Jane erwiderte sogleich, sie müsse einen falschen Eindruck berichtigen.
    »Ich will keinesfalls unterstellen, dass Ihre Eltern sie engagiert haben, weil sie für diese Arbeit nicht geeignet war, Gideon. Das wäre eine falsche Einschätzung der Situation. Das könnte ja nahe legen, dass ... Aber lassen wir das.«
    »Aber es war von Anfang an offenkundig, dass sie mit der Verantwortung überfordert war?«
    »Nur bei genauem Hinsehen war es offenkundig«, erwiderte sie. »Und Sie und ich, wir beide waren weit häufiger als alle anderen mit Katja und der Kleinen zusammen. Wir waren in der Lage, zu sehen und zu hören ... Wir - wir vier, meine ich - waren viel öfter im Haus als Ihre Eltern, die ja beide täglich zur Arbeit gingen. Darum haben wir mehr gesehen. Zumindest ich habe mehr gesehen.«
    »Und meine Großeltern? Wo waren die?«
    »Oh, Ihr Großvater war nie weit, das ist wahr. Katja gefiel ihm, er hat ihre Gesellschaft gesucht. Aber er war ja wirklich nicht ganz klar im Kopf, nicht wahr, wenn Sie wissen, was ich damit sagen will. Von ihm konnte man, weiß Gott, nicht erwarten, dass er irgendwelche Unregelmäßigkeiten, die ihm auffielen, meldete.«
    »Unregelmäßigkeiten?«
    »Nun, zum Beispiel, dass Katja die Kleine oft einfach schreien ließ, ohne sich um sie zu kümmern, dass sie wegging, wenn Sonia während des Tages schlief, Telefongespräche führte, während sie die Kleine fütterte, oft ungeduldig war mit ihr. Das nenne ich Unregelmäßigkeiten: Verhaltensweisen, die zwar nicht grob fahrlässig sind, aber auch nicht in Ordnung.«
    »Haben Sie das damals jemandem gesagt?«
    »Aber ja, Ihrer Mutter.«
    »Und was war mit meinem Vater?«
    Sarah-Jane sprang plötzlich vom Sofa auf. »Ach, der Kaffee!«, rief sie. »Den habe ich ganz vergessen ...« Damit entschuldigte sie sich und eilte aus dem Zimmer.
    Und was war mit meinem Vater? Es war so still, drinnen wie draußen, dass meine Frage von den Wänden abzuprallen schien wie ein Echo in einer Schlucht. Und was war mit meinem Vater?
    Ich stand aus meinem Sessel auf und trat zu einer der zwei Glasvitrinen, die zu beiden Seiten des offenen Kamins standen. Ich sah mir

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