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11 - Nie sollst Du vergessen

11 - Nie sollst Du vergessen

Titel: 11 - Nie sollst Du vergessen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth George
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im Entferntesten mit dem Tod der kleinen Sonia Davies, dem nachfolgenden Prozess und der Verurteilung der Mörderin zu tun gehabt hatte, von der Sensationspresse bis aufs kleinste Knöchelchen seziert worden war. Gideons Privatlehrerin hatte man ebenso unters Messer gelegt wie den Untermieter und Rafael Robson sowie Gideons Eltern und Großeltern. Und noch lange, nachdem das Urteil gesprochen war, hatte offenbar jeder Beliebige nur seine eigene Version der Geschichte an die Presse verkaufen müssen, wenn er ein bisschen Kohle machen wollte.
    Es hatte Leute genug gegeben, die gemeint hatten, ihre Meinung dazu abgeben zu müssen. Die einen hatten das Leben eines Kindermädchens im Allgemeinen und im Besonderen kommentiert - »Wie ich als Kindermädchen durch die Hölle gegangen bin« -, und die anderen, die nicht über derartige Erfahrung verfügten, präsentierten bemerkenswerte Kenntnisse über die Deutschen, an denen sie die Öffentlichkeit teilhaben lassen wollten - »Eine Rasse für sich, sagt ehemaliger GI«. Vor allem aber fiel Libby die große Zahl jener Artikel auf, die sich darüber ausließen, dass Gideons Familie überhaupt ein Kindermädchen für die kleine Sonia engagiert hatte.
    Dabei wurde von mehreren Standpunkten aus argumentiert: Die eine Gruppe ritt darauf herum, was dem deutschen Kindermädchen bezahlt worden war (ein Hungerlohn, kein Wunder also, dass sie die arme Kleine am Ende abgemurkst hatte, wahrscheinlich in einem Anfall von Wut und Frust) und was im Vergleich dazu eine, wie es hieß, »gut ausgebildete schottische Kinderfrau« bekam (ein Vermögen, wie Libby feststellte, die daraufhin sogleich über einen Berufswechsel nachdachte), wobei sie ihre bösartigen Artikel so abfassten, dass der Anschein erweckt wurde, die Familie Davies hätte das junge Mädchen schamlos ausgenützt. Eine andere Gruppe stellte Mutmaßungen darüber an, wem es überhaupt diente, wenn eine Mutter beschloss, »Arbeit außer Haus anzunehmen«. Und wieder andere Leute befassten sich mit der Frage, wie es sich auf die Erwartungen, das Maß der Verantwortung und die Hingabe der Eltern auswirkte, wenn eine Familie mit den Belastungen fertig werden musste, die ein behindertes Kind mit sich brachte. Erbittert wurde darüber gestritten, wie Eltern eines Down-Syndrom-Kindes sich verhalten sollten, und sämtliche Möglichkeiten, mit solchen Kindern umzugehen, wurden eingehend erörtert: man sollte sie zur Adoption frei geben; auf Staatskosten betreuen lassen; ihnen sein Leben weihen; mit der Situation umgehen lernen, indem man sich bei entsprechenden Institutionen Hilfe holte; sich einer Selbsthilfegruppe anschließen; durchhalten und sich nicht unterkriegen lassen; das Kind genauso behandeln wie jedes andere, und so weiter und so fort.
    Libby wurde sich bewusst, dass sie sich nicht einmal annähernd vorstellen konnte, wie es gewesen war, als die kleine Sonia Davies gestorben war. Es musste schwer genug gewesen sein, mit der Situation fertig zu werden, als das Kind geboren worden war, aber es zu lieben - denn ganz bestimmt hatten alle die Kleine geliebt! - und dann zu verlieren und aushaken zu müssen, dass jede Einzelheit seines Lebens und des Lebens seiner Familie der Öffentlichkeit zum Zeitvertreib preisgegeben wurde ... Wahnsinn, dachte Libby. Wie soll man mit so was umgehen?
    Leicht war es bestimmt nicht. Man brauchte ja nur Gideon anzuschauen. Er hatte jetzt seine Haltung geändert. Seine Stirn ruhte auf den Knien, und er wiegte sich weiter vor und zurück.
    »Gideon«, sagte sie, »ist alles in Ordnung?«
    »Jetzt, wo ich mich erinnere, will ich mich nicht erinnern«, antwortete er nuschelnd. »Ich will nicht denken. Aber ich kann nicht aufhören. Weder mit dem Erinnern noch mit dem Denken. Am liebsten würde ich mir das Gehirn aus dem Schädel reißen.«
    »Das kann ich verstehen«, sagte Libby teilnahmsvoll. »Warum schmeißen wir nicht den ganzen Krempel hier in den Müll? Hast du denn in der Nacht nichts anderes getan, als dieses Zeug zu lesen?« Sie bückte sich und schickte sich an, die Papiere einzusammeln. »Kein Wunder, dass du ganz besessen davon bist, Gid.«
    Er hielt sie am Handgelenk fest. »Nein! Nicht!«
    »Aber wenn du nicht denken willst -«
    »Nein! Ich habe das alles gelesen, und ich kann nicht verstehen, wie man danach noch weiterleben konnte, weiterleben wollte ... Sieh es dir doch bloß an, Libby. Sieh es dir an!«
    Libby senkte den Blick auf die Papiere und sah sie, wie Gideon sie gesehen haben

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