11 - Nie sollst Du vergessen
musste, als er unversehens auf sie gestoßen war, nachdem er zwanzig Jahre lang vor dem Wissen beschützt worden war, was seine Eltern damals durchgemacht hatten. Sie sah die kaum verhüllten Angriffe auf seine Eltern in dem Licht, in dem er sie sehen musste, und zog aus dem, was die Zeitungen gedruckt hatten, die Schlussfolgerung, die er zweifellos bereits gezogen hatte: Seine Mutter hatte wegen dieser Kampagne die Familie verlassen; sie war gegangen und niemals zurückgekehrt, weil sie zu glauben begonnen hatte, sie sei die Rabenmutter, als die die Zeitungen sie hingestellt hatten. Gideon schien endlich seiner eigenen Geschichte nahe zu kommen. Kein Wunder, dass er das Gefühl hatte, den Boden unter den Füßen zu verlieren.
Das alles wollte sie ihm sagen, als er unvermittelt aufstand. Er machte zwei Schritte, dann blieb er schwankend stehen. Sie sprang auf und nahm ihn beim Arm.
»Ich muss zu Cresswell-White«, sagte er.
»Dem Anwalt?«
Er schob eine Hand in die Tasche und zog seine Wagenschlüssel heraus, während er bereits zur Tür eilte. Libby lief ihm nach. Sie konnte ihn in diesem Zustand nicht allein quer durch London fahren lassen. An der Haustür riss sie seine Lederjacke vom Garderobenständer und folgte ihm den Bürgersteig entlang zu seinem Wagen. Als er mit der zitternden Hand eines Greises versuchte, den Schlüssel ins Türschloss zu schieben, warf sie ihm die Jacke um die Schultern und sagte: »Du fährst nicht. Du würdest ja nicht mal bis zum Regent's Park kommen.«
»Ich muss zu Cresswell-White.«
»Ja, gut. Meinetwegen. Aber ich fahre.«
Unterwegs sprach er kein Wort. Er saß nur da und starrte unbewegt geradeaus, während seine Knie wie im Krampf gegeneinander schlugen.
Sobald Libby den Wagen vor den ehrwürdigen alten Gebäuden des Temple anhielt, sprang er hinaus und eilte die Straße hinunter. Sie sperrte das Auto ab und rannte hinter ihm her. Am Ende der Straße, als er die Fahrbahn überquerte, um die heiligen Hallen zu betreten, holte sie ihn ein.
Sie gingen denselben Weg wie schon einmal zu dem Gebäude aus Klinker und hellem Stein, das am Rand eines kleinen Parks stand. Sie betraten das Haus durch denselben schmalen Torweg, wo an der Wand auf schwarzen Holzleisten in Weiß die Namen der Anwälte standen, die hier ihre Kanzlei hatten.
Sie mussten sich gedulden, ehe der Terminkalender Cresswell-White erlaubte, sie zu empfangen. Schweigend saßen sie auf dem schwarzen Ledersofa und starrten abwechselnd den Perserteppich und den Messinglüster an. Durch die Türen rundum hörten sie gedämpft das Klingeln von Telefonen. Dem Wartebereich gegenüber war ein Büro, in dem die Anrufe in Empfang genommen und weitergeleitet wurden.
Nachdem sich Libby vierzig Minuten lang mit der lebenswichtigen Frage herumgeschlagen hatte, ob die imposante alte Eichentruhe im Empfangsraum zur Aufbewahrung von Nachttöpfen diente, hörte sie jemanden »Gideon« sagen und blickte hoch. Bertram Cresswell-White hatte sich persönlich bemüht, sie in sein Zimmer zu bitten. Anders als bei ihrem letzten Besuch - der angemeldet gewesen war - wurde diesmal kein Kaffee serviert. Aber das künstliche Feuer im offenen Kamin brannte und nahm dem Raum etwas von seiner klammen Kühle.
Der Anwalt hatte offenbar gerade intensiv an irgendetwas gearbeitet; der Computer war noch eingeschaltet, der Bildschirm zeigte eine Seite maschinengeschriebenen Texts, und auf dem Schreibtisch lagen mehrere aufgeschlagene Bücher und ein Stapel ziemlich angestaubter Akten. In einem der geöffneten Ordner lag die Schwarzweiß-Fotografie einer Frau - blond, mit kurz gestutztem Haar, unreinem Teint und einem Gesichtsausdruck, als wollte sie sagen: Legt euch bloß nicht mit mir an.
Gideon sah das Bild und fragte: »Haben Sie vor, sie herauszuholen?«
Cresswell-White klappte den Hefter zu und wies sie zu den Klubsesseln am Feuer.
»Wenn es nach mir gegangen wäre«, sagte er, »und wir andere Gesetze hätten, wäre sie gehängt worden. Sie ist ein Ungeheuer. Und ich habe mir das Studium von Ungeheuern zur Aufgabe gemacht.«
»Was hat sie denn getan?«, erkundigte sich Libby.
»Sie hat eine große Zahl von Kindern getötet und die Leichen im Moor verscharrt. Sie und ihr Freund haben die Kinder gefoltert und dabei Tonbandaufnahmen gemacht.«
Libby schluckte.
Cresswell-White sah bedeutungsvoll auf seine Uhr, schwächte diese Unhöflichkeit aber sogleich mit den Worten ab: »Ich habe vom Tod Ihrer Mutter gehört, Mr. Davies. Im Radio.
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