11 - Nie sollst Du vergessen
Mein Beileid. Ich nehme an, Ihr Besuch bei mir hat damit zu tun. Wie kann ich Ihnen behilflich sein?«
»Ich möchte ihre Adresse.« Gideon brachte es in einem Ton hervor, als hätte er seit der Abfahrt vom Chalcot Square an nichts anderes mehr gedacht.
»Wessen Adresse?«
»Sie müssen doch wissen, wo sie sich aufhält. Sie haben dafür gesorgt, dass sie hinter Schloss und Riegel kam. Man wird Sie unterrichtet haben, als sie entlassen wurde. Und ich weiß, dass sie auf freiem Fuß ist. Deswegen bin ich gekommen. Ich brauche ihre Adresse.«
Libby dachte: Moment mal, Gideon!
Cresswell-White reagierte ähnlich. Er zog die Brauen zusammen und sagte: »Sie wollen von mir Katja Wolffs Adresse haben?«
»Sie haben sie doch, oder nicht? Sie müssen sie haben. Man hat sie bestimmt nicht frei gelassen, ohne Ihnen mitzuteilen, was sie vorhatte.«
»Wozu wollen Sie die Adresse? Ich sage übrigens nicht, dass ich sie habe.«
»Sie hat etwas gut.«
Libby dachte: Also, das ist echt der Wahnsinn! Leise, aber, wie sie hoffte, mit Nachdruck, sagte sie: »Gideon! Das ist doch Sache der Polizei.«
»Sie ist jetzt frei«, sagte Gideon zu Cresswell-White, als hätte Libby nicht gesprochen. »Sie ist frei, und sie hat etwas gut. Wo ist sie?«
»Das kann ich Ihnen nicht sagen.« Cresswell-White beugte sich vor, als wollte er nach Gideon greifen. »Ich weiß, wie schwer Sie gelitten haben, und ich kann mir vorstellen, dass Sie sich bis heute nicht von dem erholt haben, was sie Ihnen angetan hat. Die Zeit, die sie im Gefängnis verbracht hat, konnte Ihr Leiden natürlich nicht lindern.«
»Ich muss sie finden«, erklärte Gideon. »Es ist der einzige Weg.«
»Nein. Hören Sie mir zu. Das ist der falsche Weg. Ich weiß, es fühlt sich richtig an, und ich kenne selbst das Gefühl: Wenn Sie könnten, würden Sie mit einem Sprung in die Vergangenheit zurückkehren und sie schon vorher in Stücke reißen, nur um zu verhindern, dass sie Ihrer Familie das antun, was sie ihr angetan hat. Aber Sie würden dadurch so wenig gewinnen wie ich, wenn ich den Spruch der Geschworenen höre und weiß, dass ich gesiegt habe, aber in Wirklichkeit verloren, weil ein totes Kind durch nichts wieder zum Leben erweckt werden kann. Eine Frau, die das Leben eines Kindes nimmt, ist das schlimmste Ungeheuer überhaupt, weil sie Leben schenken könnte, wenn sie nur wollte. Und Leben zu nehmen, wenn man Leben schenken kann, ist ein besonders perverses Verbrechen, für das es niemals eine angemessene Strafe geben wird. Nicht einmal der Tod ist ausreichend.«
»Es muss eine Wiedergutmachung stattfinden«, sagte Gideon. Er schien weniger eigensinnig als verzweifelt. »Meine Mutter ist tot, verstehen Sie denn nicht? Es muss eine Wiedergutmachung geben, das ist der einzige Weg. Ich habe keine Wahl.«
»Doch«, entgegnete Cresswell-White, »Sie haben eine. Sie können sich dafür entscheiden, dieser Frau nicht auf dem Niveau zu begegnen, auf dem sie sich bewegt. Sie können sich dafür entscheiden zu glauben, was ich Ihnen sage, denn es gründet auf jahrzehntelanger Erfahrung. Es gibt keine Vergeltung für ein solches Verbrechen. Nicht einmal die Todesstrafe wäre angemessen, Gideon.«
»Sie verstehen mich nicht.«
Gideon schloss die Augen, und einen Moment lang glaubte Libby, er würde zu weinen anfangen. Sie wollte verhindern, dass er zusammenbrach und sich noch tiefer demütigte vor diesem Mann, der ihn nicht kannte und daher nicht wissen konnte, was er in den letzten zwei Monaten durchgemacht hatte. Aber sie wollte auch die Wogen glätten; denn wenn, so unwahrscheinlich das war, dieser Katja Wolff in den nächsten Tagen etwas zustoßen sollte, würde man nach diesem interessanten kleinen Gespräch mit Cresswell-White sich garantiert Gideon als Ersten vornehmen. Natürlich würde Gideon niemals wirklich etwas tun. Er redete nur, er brauchte einfach irgendetwas, woran er sich festhalten konnte, um nicht das Gefühl aushalten zu müssen, dass sein ganzes Leben in die Brüche ging.
Leise sagte Libby zu dem Anwalt: »Er war die ganze Nacht auf. Und wenn er mal schläft, dann hat er fürchterliche Albträume. Er hat sie nämlich gesehen, wissen Sie, und -«
Cresswell-White fuhr in die Höhe. »Katja Wolff? Hat sie sich bei Ihnen gemeldet, Gideon? Die Bewährungsauflagen verbieten ihr, mit Angehörigen Ihrer Familie Kontakt aufzunehmen. Wenn sie gegen sie verstoßen hat, können wir dafür sorgen -«
»Nein, nein. Seine Mutter«, unterbrach Libby. »Er hat
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