11 - Nie sollst Du vergessen
hatte überhaupt nicht versucht, ihr nahe zu kommen. Er hatte noch nicht einmal mit ihr darüber gesprochen, warum er es nicht versucht hatte. Sie begnügten sich beide mit ihren Ausflügen, ihren kleinen Spaziergängen, ihren armseligen Seniorenbusreisen ... Ich wollte ihr nur sagen, dass das nicht normal sei. Ich meine, so etwas ist doch blutleer, wenn sie daraus einen Dauerzustand machen wollte, wenn sie sich tatsächlich mit ihm verheiraten und sich damit gewissermaßen selbst aus dem Rennen nehmen wollte ...« Robson ging die Luft aus. Seine Augen röteten sich. »Aber wahrscheinlich wollte sie eben genau das. Mit einem Menschen zusammenleben, der ihr nichts geben konnte, nichts von dem, was ein Mann einer Frau geben kann, die ihm alles bedeutet.«
Lynley betrachtete Robson aufmerksam, während dieser redete, und sah, wie unglücklich er war. »Wann haben Sie Mrs. Davies das letzte Mal gesehen?« fragte er.
»Vor vierzehn Tagen. Am Donnerstag.«
»Wo?«
»In Marlow. Im Swan and Three Roses. Das ist ein Lokal am Stadtrand.«
»Und danach haben Sie sich nicht wieder getroffen? Haben Sie noch einmal mit ihr gesprochen?«
»Zweimal. Am Telefon. Ich wollte mich - ich hatte ziemlich heftig reagiert, als sie mir das mit Wiley gesagt hatte, und das war mir auch klar. Ich wollte mich mit ihr versöhnen. Aber es wurde nur schlimmer, weil ich trotzdem wieder mit ihr darüber sprechen wollte, über ihn und darüber, dass er in den drei Jahren kein Mal - nicht ein einziges Mal in drei Jahren ... Doch das wollte sie nicht hören. ›Er ist ein guter Mann, Raphael‹, sagte sie immer wieder. ›Und es ist jetzt an der Zeit.‹«
»Was denn?«
Robson fuhr zu sprechen fort, als hätte Nkata nicht gefragt, als wäre er selbst ein stummer Cyrano, der lange auf eine Gelegenheit gewartet hatte, seinem Herzen Luft zu machen. »Ich fand auch, dass es an der Zeit sei«, fuhr er fort. »Sie hatte sich jahrelang bestraft. Sie war nicht im Gefängnis, aber sie lebte wie in einem Gefängnis. Sie lebte beinahe wie in Einzelhaft, in absoluter Selbstverleugnung, umgab sich mit Leuten, mit denen sie nichts gemeinsam hatte, und übernahm freiwillig die unangenehmsten Aufgaben. Und das alles tat sie, um zu bezahlen. Um zu büßen.«
»Aber wofür denn?« Nkata, der die ganze Zeit an der offenen Tür gestanden hatte, als wollte er seinen guten anthrazitgrauen Flanellanzug vor dem Staub schützen, der hier drinnen in der Luft hing, trat jetzt einen Schritt näher an Robson heran und sah Lynley an. Der deutete mit einer kurzen Handbewegung an, dass sie abwarten sollten, bis Robson aus eigenem Antrieb sprach. Ihr Schweigen war als Instrument so nützlich wie seines enthüllend.
Schließlich sagte Robson: »Eugenie konnte Sonia nicht gleich die Liebe geben, die sie dem Kind ihrer Meinung nach hätte geben müssen. Sie war einfach erschöpft von der Entbindung. Es war eine schwere Geburt gewesen, und zunächst wollte sie nur Ruhe, um sich zu erholen. Es ist doch nichts Unnatürliches, wenn eine Frau so lange in den Wehen gelegen hat - dreißig Stunden! - und so ermattet ist, dass sie nicht einmal mehr die Kraft hat, ihr Neugeborenes in die Arme zu schließen. Das ist doch keine Sünde.«
»Sicher nicht«, sagte Lynley.
»Und sie haben ja auch nicht sofort festgestellt, was mit der Kleinen los war. Es gab natürlich gewisse Anzeichen, aber es war, wie gesagt, eine schwere Geburt gewesen. Sie kam nicht glatt und rosig zur Welt wie ein Filmbaby. Darum wurden die Ärzte erst aufmerksam, als sie sie untersuchten, und dann ... Mein Gott, jeder wäre erst einmal schockiert gewesen von so einer Nachricht. Jeder hätte sich erst einmal mit der unerwarteten Situation auseinander setzen müssen, um sich auf sie einstellen zu können. So etwas braucht Zeit. Aber Eugenie meinte, bei ihr hätte es anders sein müssen, und das war ihr nicht auszureden. Sie meinte, sie hätte die Kleine sofort ins Herz schließen und augenblicklich wissen müssen, wie sie sich zu verhalten habe, was sie zu erwarten und wie sie zu sein hatte. Da ihr das nicht gelang, hasste sie sich. Und die Familie machte es ihr nicht leichter, das Kind zu akzeptieren, vor allem Richard Davies' Vater nicht - dieser Wahnsinnige -, der ein zweites Wunderkind erwartet hatte und nun, als ihm das Gegenteil beschert wurde ... Ach, es war einfach zu viel für Eugenie! Sonias Probleme, Gideons Bedürfnisse - die täglich wuchsen, was kann man bei einem Wunderkind anderes erwarten? - die
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