11 - Nie sollst Du vergessen
das erste Mal begegnete. Libby hat nie eine berufliche Ausbildung genossen, auf der sie dann eine Karriere aufzubauen versuchte, und sie ist keine Künstlerin. Sie kann leicht sagen, dass ich nicht meine Geige bin, sie hat ja nie erfahren, was es heißt, ein Leben zu führen, das mit dem Künstlertum untrennbar verbunden und verstrickt ist. Sie hat bisher immer nur »gejobbt«, das heißt, sie ist morgens zur Arbeit gegangen und hat sie am Ende des Tages hinter sich gelassen. So leben Künstler nicht. Wenn jemand annimmt, sie täten oder könnten es, zeigt das eine Ignoranz, vor der man innehalten und überlegen muss.
Was denn überlegen?, fragen Sie.
Was für Möglichkeiten es überhaupt für uns gibt. Für Libby und mich. Ich hatte nämlich eine Zeitlang geglaubt ... Ja, es fühlte sich richtig an, dass wir einander begegnet waren. Es schien mir ein ganz entscheidender Vorteil zu sein, dass Libby nicht wusste, wer ich bin, dass sie meinen Namen nicht kannte, als sie ihn auf ihrer Kuriersendung sah, dass sie von meiner Karriere keine Ahnung hatte und es ihr egal war, ob ich Geige spielte oder Drachen baute und diese auf dem Markt in Camden verhökerte. Das gefiel mir an ihr. Aber jetzt wird mir klar, dass ich, wenn ich mein Leben leben will, mit jemandem zusammen sein muss, der es versteht.
Dieser Wunsch nach Verständnis gab mir den Anstoß, mich auf die Suche nach Katie Waddington zu machen, dem Mädchen aus dem Kloster, an die ich mich gut erinnerte, weil sie so oft bei uns am Kensington Square in der Küche gesessen hatte.
Katja Wolff, erzählte mir Katie, als ich sie aufgestöbert hatte, war die eine Hälfte der beiden KWs gewesen. Manchmal, sagte sie, wenn einen mit jemandem eine enge Freundschaft verbinde, mache man den Fehler, anzunehmen, sie werde ewig bestehen, unverändert und bereichernd. Aber das sei nur selten so.
Es war nicht schwierig, Katie Waddington ausfindig zu machen. Und ich war auch nicht weiter überrascht, zu erfahren, dass sie einen beruflichen Weg eingeschlagen hatte, der ganz dem entsprach, was sie zwei Jahrzehnte zuvor stets als ihre Lebensaufgabe bezeichnet hatte. Ich fand sie über die Telefonauskunft und erreichte sie in ihrem Institut in Maida Vale. Das Institut trägt den Namen »Harmonie von Körper und Seele«, und ich vermute, er soll verschleiern, was das Institut vor allem anbietet: Sexualtherapie. Natürlich spricht dort keiner rundheraus von Sexualtherapie. Das würde die meisten Leute abschrecken. Stattdessen reden sie von »Beziehungstherapie«; und die Unfähigkeit, den Geschlechtsverkehr auszuüben, wird »Beziehungsstörung« genannt.
»Sie würden sich wundern, wie viele Menschen sexuelle Probleme haben«, teilte mir Katie auf eine Art mit, die geeignet war, auf den alten Bekannten offen und freundlich, auf den eventuellen Ratsuchenden beruhigend zu wirken. »Wir bekommen täglich mindestens drei Anfragen. Manche unserer Klienten haben Probleme auf Grund von körperlichen Beschwerden - Diabetes, Herzkrankheiten, postoperatives Trauma und Ähnliches. Aber auf jeden Klienten mit einem körperlichen Problem kommen mindestens neun oder zehn mit psychischen Schwierigkeiten. Und das ist ja genau besehen auch kein Wunder - die ganze Nation ist besessen vom Sex, aber alle versuchen ständig, so zu tun, als wäre das nicht wahr. Dabei braucht man sich nur die Boulevardblätter und die Illustrierten anzusehen, da kann man doch den Pegel des sexuellen Interesses genau ablesen. Mich wundert es nur, dass nicht mehr Leute in Therapie kommen. Sie können es mir glauben, ich bin nie jemandem begegnet, der nicht irgendwelche sexuellen Schwierigkeiten hatte. Die Gesunden sind diejenigen, die damit umzugehen lernen.«
Sie führte mich durch einen Korridor, der in warmen Erdfarben gestrichen war, in ihren Arbeitsraum. Ein großer, üppig bewachsener Balkon bildete einen grünen Hintergrund zu einem behaglichen Zimmer mit komfortablen Polstermöbeln und Kissen, einer Sammlung von Keramiken (»Südamerikanisch«, erklärte sie mir) und Körben (»Nordamerikanisch ... sind sie nicht wunderschön? Die sind meine verbotene Schwäche. Ich kann sie mir nicht leisten, aber ich kaufe sie trotzdem. Na ja, es gibt sicher schlimmere Laster im Leben.«).
Wir setzten uns und nahmen uns einen Moment Zeit, um uns gegenseitig zu mustern. Im selben warmen, persönlichen und zugleich beruhigenden professionellen Ton sagte Katie: »Also. Was kann ich für Sie tun, Gideon?«
Ich begriff, dass sie
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