11 - Nie sollst Du vergessen
täglich gefegt. Nirgendwo auf den Bürgersteigen lagen Abfälle oder Laub. Die Laternenpfähle waren nicht fleckig von Hundeurin, und im Rinnstein lagen keine Hundehaufen. Die Hausmauern waren nicht beschmiert, vor den Fenstern hingen weiße Stores, es gab keine Balkone mit Leinen voll müde herabhängender Wäsche; nur eine lange Zeile Reihenhäuser, alle von ihren Bewohnern gut gepflegt.
Hier könnte man glücklich sein, dachte Yasmin. Hier könnte man sich ein besseres Leben aufbauen. Langsam begann sie, die Straße hinunterzugehen. Es war niemand unterwegs, dennoch fühlte sie sich beobachtet. Sie machte den obersten Knopf ihrer Jacke zu und zog einen Schal heraus, um ihr Haar zu bedecken. Sie wusste, dass das albern war. Sie wusste, dass es sie auffällig machte: ängstlich und besorgt, gesehen zu werden. Sie tat es trotzdem, weil sie sich sicher fühlen wollte, unbefangen und selbstbewusst, und bereit war, dieses Ziel zu erreichen.
Bei Nummer fünfundfünfzig angekommen, blieb sie vor dem Gartentörchen stehen und fragte sich in diesem letzten Moment, ob sie wirklich fähig war, bis zum Ende zu gehen; ob sie es wirklich wissen wollte.
Sie verfluchte den Schwarzen, der sie soweit gebracht hatte, voller Wut nicht nur auf ihn, sondern auch auf sich selbst - auf ihn, weil er ihr den Verdacht ins Haus getragen hatte, auf sich selbst, weil sie ihn aufgenommen hatte.
Aber sie musste Gewissheit haben. Sie hatte zu viele Fragen, die vielleicht mit einem einfachen Anklopfen beantwortet werden konnten. Sie konnte nicht wieder gehen, solange sie sich nicht den Problemen gestellt hatte, die sie so lange zu verdrängen versucht hatte.
Sie trat durch die Pforte in einen Vorgarten. Auf dem mit Platten belegten Fußweg ging sie zu der glänzenden roten Haustür mit dem Klopfer aus Messing in der Mitte. Die kahlen Äste herbstlicher Büsche reckten sich über den kleinen Vorplatz, und in einem Drahtkorb standen drei leere Milchflaschen. In einer von ihnen steckte ein zusammengerollter Zettel.
Yasmin bückte sich, um den Zettel herauszuziehen. Vielleicht würde sie im letzten Moment doch verschont bleiben und die Konfrontation vermeiden können - vielleicht würde der Zettel ihr Auskunft geben. Sie strich ihn auf ihrer offenen Hand glatt und las: »Von jetzt ab bitte täglich zwei Fettarme, eine mit Silberfoliendeckel.« Das war alles. Die Handschrift verriet nichts. Alter, Geschlecht, Rasse, Konfession. Jeder konnte die Nachricht geschrieben haben.
Sie ballte ihre Hände zu Fäusten, um sich selbst zu ermutigen, die Rechte zu heben und zum Klopfer zu greifen. Sie trat einen Schritt zurück und richtete ihren Blick auf das Erkerfenster, in der Hoffnung, dort etwas zu entdecken, was sie davor bewahren würde, das zu tun, was sie tun wollte. Aber die Vorhänge waren so dicht wie alle anderen in der Straße: breite Stoffbahnen, die ein wenig Licht ins Zimmer ließen und durch die man abends eine Silhouette erkennen konnte. Bei Tag jedoch wehrten sie die Blicke von außen ab. Es blieb Yasmin also doch nichts anderes als die Tür.
Verdammt noch mal, dachte sie. Ich habe ein Recht darauf, es zu wissen. Entschlossen ging sie zur Tür und schlug mit dem Klopfer energisch auf das Holz.
Sie wartete. Nichts. Sie drückte auf den Klingelknopf und hörte drinnen, dicht bei der Tür, so ein raffiniertes Glockenspiel, das eine Melodie abspielte. Aber das Ergebnis war das Gleiche - nichts.
Yasmin wollte nicht daran denken, dass sie die lange Fahrt von Kennington umsonst gemacht haben könnte. Sie wollte nicht daran denken, wie es sein würde, mit Katja zusammenzusein, als hätte sie keine Zweifel. Es war besser, die Wahrheit zu erfahren, ob gut oder schlecht. Dann würde sie wenigstens ganz klar spüren, was sie als Nächstes zu tun hatte.
Seine Karte lag schwer wie Blei in ihrer Tasche. Sie hatte sie sich erst gestern Abend angesehen und in den Händen gedreht, während die Stunden vergingen, ohne dass Katja nach Hause kam. Katja hatte natürlich angerufen. »Yas, ich komme später«, hatte sie gesagt und hinzugefügt: »Es ist ein bisschen schwierig am Telefon zu erklären. Ich sag's dir nachher, okay?«, als Yasmin gefragt hatte, was denn los sei. Aber es war viel später geworden, als Yasmin erwartet hatte, und nach mehreren Stunden war sie aufgestanden und ans Fenster gegangen, als könnte die Dunkelheit draußen ihr helfen zu verstehen, was vorging. Schließlich hatte sie ihre Jacke geholt und in ihrer Tasche die Karte
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