11 - Nie sollst Du vergessen
Unterlagen. Keinerlei Spuren waren unter ihren Fingernägeln; alles Blut an ihrem Körper war ihr eigenes; aus dem Reifenprofil herausgefallene Erdreste zeigten keine verräterischen Merkmale wie etwa Mineralspuren, die für einen bestimmten Teil des Landes typisch waren; Schmutz- und Staubkörnchen in ihrem Haar waren denen auf der Straße ähnlich; zwei einzelne Haare an ihrem Körper - das eine grau, das andere braun -, deren Analyse ...
Lynleys Interesse wurde wach. Zwei einzelne Haare, zwei unterschiedliche Farbtöne, eine Analyse. Das klang doch vielversprechend. Stirnrunzelnd las er den Bericht, kämpfte sich durch Beschreibungen von Oberhäutchen, Rindenschicht und Markschicht, die in der Schlussfolgerung kulminierten, dass die beiden Haare von einem Säugetier stammten.
Aber als er weitersuchte und sich durch ein Gewirr aus Fachausdrücken von der »makrofibrillären Ultrastruktur der Medullärzellen« bis zu den »elektrophoretischen Varianten der Proteinbausteine« arbeitete, erfuhr er am Ende lediglich, dass die gerichtsmedizinische Untersuchung der Haare kein schlüssiges Ergebnis zu Tage gefördert hatte. Wie, zum Teufel, war das nun möglich?
Er griff zum Telefon und tippte die Nummer des Labors drüben am anderen Themseufer ein. Nachdem er mit drei Technikern und einer Sekretärin gesprochen hatte, gelang es ihm endlich, jemanden aufzutreiben, der ihm erklärte, wie es möglich war, dass in dieser Hochzeit wissenschaftlichen Fortschritts, wo man mit Hilfe eines mikroskopisch kleinen Hautpartikelchens einen Mörder identifizieren konnte, eine Haaranalyse ohne schlüssiges Ergebnis blieb.
»Wir können nicht einmal sagen, ob die Haare überhaupt vom Täter stammen, Inspector«, erklärte Dr. Claudia Knowles. »Sie könnten ebenso gut von der Toten sein.«
»Wieso denn das?«
»Erstens, weil an keinem von beiden Kopfhaut haftete. Zweitens - und das ist das Gemeine -, weil selbst die Haare, die von ein und derselben Person stammen, keineswegs alle gleich sind, sondern in ihren Merkmalen sehr unterschiedlich sein können. Wir könnten Dutzende von den Haaren des Opfers nehmen und kein einziges Haar finden, das den zwei an dem Körper gefundenen entspricht. Und trotzdem könnten es ihre Haare sein, wegen der möglichen Variationen. Verstehen Sie, was ich meine?«
»Aber was ist mit einem DNS-Test? Wozu überhaupt nach Haaren suchen, wenn wir sie nicht gebrauchen können -«
»Das stimmt ja nicht. Natürlich können wir sie gebrauchen«, unterbrach ihn Dr. Knowles. »Und wir werden sie gebrauchen. Aber selbst dann werden wir lediglich erfahren - und das geht nicht über Nacht, wie Sie sicherlich wissen -, ob das Haar tatsächlich von Ihrem Opfer stammt. Was natürlich eine Hilfe sein wird. Wenn aber die Haare nicht von der Toten sind, werden Sie nach der Analyse nichts weiter wissen, als dass jemand ihr entweder vor oder nach ihrem Tod nahe genug gekommen ist, um ein oder zwei Haare auf ihrem Körper hinterlassen zu haben.«
»Können es auch zwei Personen gewesen sein, die ihr nahe genug kamen, um je ein Haar auf ihrem Körper zu hinterlassen? Ich meine, da ja das eine grau und das andere braun ist.«
»Ja, sicher, so könnte es gewesen sein. Aber selbst dann ist die Möglichkeit nicht auszuschließen, dass vor ihrem Tod jemand sie ganz einfach umarmte und dabei in aller Unschuld ein Haar auf ihrer Kleidung zurückließ. Und selbst wenn wir das Ergebnis der DNS-Untersuchung vor uns haben und dieses beweist, dass das Haar nicht von einer Person stammt, die ihr zu ihren Lebzeiten innig genug verbunden war, um sie zu umarmen, was fangen wir dann mit diesem Ergebnis an, Inspector, solange wir keine Vergleichsproben haben?«
Ja, natürlich. Das war das Problem. Und dieses Problem würde es immer geben. Lynley dankte Dr. Knowles, legte auf und schob ungeduldig den Bericht zur Seite. Sie brauchten endlich ein wenig Glück.
Noch einmal las er die Aufzeichnungen der Gespräche durch, die er geführt hatte: was Wiley gesagt hatte, was Staines, was Davies, was Robson und der jüngere Davies gesagt hatten. Da musste es doch etwas geben, was er bisher übersehen hatte. Aber bei dem, was er sich aufgeschrieben hatte, fand er es nicht.
Na schön, dachte er. Versuchen wir es eben anders.
Er fuhr kurz entschlossen nach West Hampstead. Crediton Hill war nicht weit von der Finchley Road. Er parkte am oberen Ende, stieg aus dem Wagen und begann langsam loszugehen. Geparkte Autos standen zu beiden Seiten der
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