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11 - Nie sollst Du vergessen

11 - Nie sollst Du vergessen

Titel: 11 - Nie sollst Du vergessen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth George
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auf seiner Straßenseite: vier Stockwerke mit einem Spitzgiebel und einem Souterrain, zu dem vom gepflasterten Vorgarten aus eine schmale Wendeltreppe hinunterführte. Zwei Backsteinsäulen, mit je einem Blätterknauf gekrönt, flankierten das schmiedeeiserne Tor. Barbara druckte es auf, trat in den Vorgarten, schloss es hinter sich und blieb stehen, in die Betrachtung des Hauses versunken.
    Mit Lynn Davies' bescheidener kleiner Wohnung war dieses Haus mit den Fenstertüren und Baikonen, den Fensterrahmen aus cremefarben gestrichenem Holz, den feierlichen Ziergiebeln und Simsen, den halbmondförmigen Oberlichten und Buntglasfenstern, das in einer der besten Gegenden Londons stand, nicht zu vergleichen. Der Unterschied zu der Umgebung, in der Virginia ihr Leben verbracht hatte, hätte kaum größer sein können.
    Aber neben diesem rein äußerlichen Unterschied gab es noch einen anderen, und über den dachte Barbara jetzt nach, während sie das Haus betrachtete. Dort drinnen hatte, nach Lynn Davies' Worten, ein schrecklicher Mann gelebt; ein Mann, der es nicht ertrug, wenn seine Enkelin, die in seinen Augen missraten war, sich im selben Raum aufhielt wie er. Das Kind war in diesem Haus unerwünscht gewesen, ein Objekt des Abscheus, und darum war Lynn Davies mit Virginia für immer gegangen. Und der alte Jack Davies - der schreckliche Jack Davies - war zufrieden gewesen. Ja, er hatte mit dem Ausgang der Dinge hoch zufrieden sein können, denn das nächste Enkelkind, das sich nach der Wiederverheiratung seines Sohnes einstellte, entpuppte sich als musikalisches Wunderkind.
    Ungetrübtes Glück, dachte Barbara. Der Junge griff sich die nächstbeste Geige, wurde berühmt und verlieh dem Namen Davies den Glanz, den er verdiente. Aber dann folgte die Geburt des dritten Enkelkindes, und der alte Jack Davies - der schreckliche Jack Davies - musste erneut der Unzulänglichkeit ins Gesicht sehen.
    Diesmal jedoch, bei diesem zweiten missratenen Kind, war die Sache für Jack etwas heikler. Wenn er nämlich mit seinen unaufhörlichen Forderungen, ihm ›mit dieser Kreatur nicht unter die Augen zu kommen‹, die Mutter aus dem Haus trieb, war damit zu rechnen, dass diese ihr anderes Kind mitnehmen würde. Und dann: Ade Gideon, ade aller Glanz, in dem man sich dank Gideon und den Wunderdingen, die von ihm zu erwarten waren, hätte sonnen können.
    Barbara fragte sich, ob ihre Kollegen, die damals den Tod der kleinen Sonia Davies untersucht hatten, überhaupt von Virginia Davies gewusst hatten. Und wenn ja, war es der Familie dann gelungen, die Einstellung des alten Jack Davies zu diesem Kind unter Verschluss zu halten? Wahrscheinlich.
    Er hatte im Krieg Entsetzliches durchgemacht, er hatte sich nie wieder davon erholt, er war ein Kriegsheld. Aber er schien auch geistig gestört gewesen zu sein, und woher sollte man wissen, wie weit ein solcher Mensch zu gehen bereit war, wenn irgendetwas nicht seinen Wünschen entsprach?
    Barbara ging wieder zur Straße hinaus und zog das Tor hinter sich zu. Sie schnippte den Zigarettenstummel aufs Pflaster und machte sich auf den Weg zum Kloster.
    Diesmal traf sie Schwester Cecilia Mahoney in dem großen Park hinter dem Hauptgebäude an. Zusammen mit einer anderen Nonne war sie damit beschäftigt, unter einer gewaltigen alten Platane das Laub zusammenzurechen. Farbenprächtig hoben sich die fünf Blätterhaufen, die sie bisher zusammengeschoben hatten, vom grünen Rasen ab. In der Ferne, wo eine Mauer das Klostergelände begrenzte und gegen die unablässig vorbeidonnernden Zügen der U-Bahn abschirmte, die hier oberirdisch fuhr, bewachte ein Mann in Overall und Wollmütze ein Feuer, in dem ein Teil des Laubs verbrannt wurde.
    »Da müssen Sie aber sehr vorsichtig sein«, sagte Barbara zu Schwester Cecilia, nachdem sie sie begrüßt hatte. »Eine Unachtsamkeit, und ganz Kensington geht in Flammen auf. Das wollen Sie doch bestimmt nicht.«
    »Und kein Christopher Wren, der ein neues erbauen könnte«, erwiderte Schwester Cecilia. »Keine Sorge, wir sind selbstverständlich sehr vorsichtig, Constable. George lässt das Feuer keinen Moment aus den Augen. Und wenn Sie mich fragen, hat er den besseren Teil gewählt. Wir sammeln hier die Früchte des Feldes, und er bringt Gott das Opfer dar, das dieser gnädig annimmt.«
    »Pardon?«
    »Eine kleine Anspielung auf die biblische Geschichte«, erklärte die Nonne, während sie ihren Rechen über den Rasen zog. »Kain und Abel. Der Rauch von Abels Feuer stieg

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