11 - Nie sollst Du vergessen
Catherine. Aber das war vorher gewesen, als sie geglaubt hatte, nichts könnte so blitzschnell geschehen, wie die Dinge eben doch geschahen: Wie dies hier, das alles veränderte, und alles, was gestern noch so ungeheuer wichtig schien, heute zur Bagatelle machte.
Sie hatte ihm schließlich das Versprechen gegeben, den Humber nicht mehr zu fahren, und hatte dieses Versprechen die letzten zwei Monate hindurch gehalten. Und deshalb machte sie sich noch mehr Sorgen, ob er gleich anspringen würde.
Er startete sofort. Traumhaft. Aber Jill passte nicht mehr hinters Steuer. Sie musste den Sitz verstellen. Sie beugte sich hinunter und griff nach dem Metallhebel, zog daran und versuchte, den Sitz nach hinten zu schieben, doch der war zu schwer und rührte sich nicht von der Stelle.
»Ach, verdammt«, schimpfte sie. »Komm schon.« Sie versuchte es noch einmal. Aber entweder war die ganze Vorrichtung im Lauf der Jahre allmählich eingerostet, oder etwas blockierte die Schiene, auf der der Sitz bewegt werden konnte.
Mit wachsender Nervosität tastete sie mit den Fingern auf dem Boden unter dem Sitz herum. Sie fand den Hebel, dann die Kante des Hebels. Sie fand die Sprungfedern des Sitzes. Die Schiene. Und dann hatte sie es. Etwas Hartes, Dünnes, Rechteckiges blockierte die Schiene, war auf eine Weise eingeklemmt, dass es wie ein Bremskeil wirkte.
Stirnrunzelnd zog sie an dem Gegenstand, riss ihn ungeduldig hin und her, als er klemmte. Sie fluchte. Ihre Hände begannen zu schwitzen. Und dann endlich, endlich schaffte sie es, das Ding zu lösen. Sie zog es unter dem Sitz hervor, hob es hoch und legte es auf den Sitz neben sich.
Es war eine Fotografie, ein Bild in einem einfachen Holzrahmen.
GIDEON
11. November
Ich lief davon, Dr. Rose. Ich stürzte zur Tür des Musikzimmers und stürmte die Treppe hinunter. Ich riss die Haustür auf. Sie krachte gegen die Wand. Ich floh zum Chalcot Square. Ich wusste nicht, wohin oder was tun. Aber ich musste weg; weg von meinem Vater und weg von dem, womit er mich, ohne es zu wollen, konfrontiert hatte.
Ich rannte blind, aber ich sah ihr Gesicht. Nicht so, wie sie heiter oder unschuldig oder selbst im Leiden vielleicht ausgesehen hätte, sondern im Zustand des schwindenden Bewusstseins, als ich sie ertränkte. Ich sah, wie ihr Kopf sich von einer Seite zur anderen bewegte, wie ihr feines Kleinkinderhaar sich unter Wasser ausbreitete, ihr Mund wie der eines Fischs schnappte, ihre Augen sich verdrehten und verschwanden. Sie kämpfte um ihr Leben, aber der Kraft meiner Wut war sie nicht gewachsen. Ich hielt sie unter Wasser, und als Katja und Raphael hereinkamen, bewegte sie sich schon nicht mehr, versuchte nicht mehr, sich gegen mich zu wehren. Aber meine Wut war immer noch nicht gestillt.
Meine Füße schlugen knallend aufs Pflaster, als ich über den Platz lief. Ich lief nicht in die Richtung zum Primrose Hill, denn der Primrose Hill bietet keinen Schutz, und Ungeschütztheit, ganz gleich, vor wem oder was, konnte ich jetzt nicht ertragen. Ich rannte deshalb in eine andere Richtung, bog um die nächste Ecke, jagte durch das stille Viertel, bis ich in den oberen Bereich der Regent's Park Road gelangte.
Augenblicke später hörte ich ihn meinen Namen rufen. Während ich keuchend an der Kreuzung stand, wo die Regent's Park Road und die Gloucester Road aufeinander treffen, bog er um die Ecke, eine Hand in die Seite gedrückt. Er hob den Arm und rief laut: »Warte!«
Ich begann wieder zu laufen. Beim Laufen ging mir ständig derselbe Gedanke durch den Kopf: Er hat es immer gewusst. Denn mir kamen weitere Erinnerungen, und ich sah sie in einer Folge von Bildern.
Katja schreit gellend. Raphael drängt sich an ihr vorbei, um an mich heranzukommen. Rufe und Schritte schallen auf der Treppe und im Korridor. Eine Stimme brüllt: » Gottverdammt! «
Mein Vater ist im Badezimmer. Er versucht, mich von der Wanne wegzuzerren, meine Finger zu lösen, die sich tief, tief in die zerbrechlichen Schultern meiner Schwester gegraben haben. Er zieht mich bei den Haaren, und ich lasse sie endlich los.
»Bringt ihn hier raus!«, brüllt er, und zum ersten Mal hört er sich genau wie Großvater an, und ich bekomme Angst.
Während Raphael mich durch den Korridor schleppt, höre ich andere kommen. Meine Mutter ist auf der Treppe und ruft: »Richard? Richard?«, während sie läuft. Sarahjane Beckett und James, der Untermieter, kommen von oben die Treppe heruntergerannt. Irgendwo schimpft Großvater:
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