11 - Nie sollst Du vergessen
Gleise hinunterfallen lassen und vergessen könnte.
»Was sagst du da?«, schrie er. »Zu spät wofür?«
»Ich weiß, was ich getan habe«, rief ich weinend. »Sonia. Ich weiß es wieder.«
»Was weißt du wieder?« Er blickte von mir zum Zug, und wir beobachteten beide sein unausweichliches Näherkommen. Mein Vater trat einen Schritt näher zu mir.
»Was ich getan habe. An dem Abend damals. Was ich Sonia angetan habe. Wie sie gestorben ist. Du weißt, was ich Sonia angetan habe.«
»Nein! Warte!«, rief er, als ich mich an den Rand des Bogens schob, so dass ein Teil meiner Schuhsohlen in die Luft stand. »Tu das nicht, Gideon. Sag mir erst, was deiner Meinung nach geschehen ist.«
»Ich habe sie ertränkt, Dad! Ich habe meine Schwester ertränkt!«
Mit ausgestreckten Armen kam er noch einen Schritt näher auf mich zu.
Der Zug rollte heran. Zwanzig Sekunden, und es würde vorbei sein. Zwanzig Sekunden, und eine Schuld würde beglichen sein.
»Bleib, wo du bist! Um Gottes willen, Gideon!«
»Ich habe sie ertränkt«, rief ich schluchzend. »Ich habe sie ertränkt und habe es nicht einmal mehr gewusst. Weißt du, was das bedeutet? Weißt du, wie das ist?«
Sein Blick flog zu dem sich nähernden Zug, dann zurück zu mir. Noch einen Schritt ging er mir entgegen. »Nicht!«, schrie er.
»Hör mir zu! Du hast deine Schwester nicht getötet.«
»Du hast mich doch selbst von ihr weggezogen. Ich erinnere mich ganz deutlich. Darum ist Mutter gegangen. Sie hat uns ohne ein Wort verlassen, weil sie wusste, was ich getan hatte. Stimmt das nicht? Ist es nicht die Wahrheit?«
»Nein! Nein, es ist nicht die Wahrheit.«
»Doch. Ich erinnere mich genau.«
»Bitte hör mir zu. Warte!« Er sprach sehr schnell. »Du hast ihr weh getan, ja. Und sie war bewusstlos, ja. Aber Gideon, mein Sohn, höre, was ich sage. Du hast Sonia nicht ertränkt.«
»Wer dann -«
»Ich habe es getan.«
»Das glaube ich dir nicht.« Ich sah nach unten zu den wartenden Gleisen. Nur einen einzigen Schritt brauchte ich zu machen, dann wäre ich unten auf den Schienen, und einen Augenblick danach wäre alles vorbei. Ein brüllender Schmerz, dann alle Schuld gelöscht.
»Sieh mich an, Gideon. Um Gottes willen, hör mir zu bis zum Ende. Tu das nicht, bevor du weißt, was damals geschah.«
»Du willst mich nur hinhalten.«
»Und wenn schon? Es kommen ja noch andere Züge, oder nicht? Also, hör mir zu. Das bist du dir selbst schuldig.«
Niemand sei dabei gewesen, sagte er. Raphael hatte Katja in die Küche hinunter gebracht. Meine Mutter telefonierte unten mit der Notrufzentrale. Großmutter war zu Großvater gegangen, um ihn zu beruhigen. Sarah-Jane hatte mich in mein Zimmer gebracht. Und James, der Untermieter, war wieder nach oben gegangen.
»Ich hätte sie aus dem Wasser heben können«, sagte er. »Ich hätte sie beatmen können. Ich hätte versuchen können, sie wiederzubeleben. Aber ich habe sie nicht herausgeholt, Gideon. Ich habe sie weiter unter Wasser gedrückt, bis ich hörte, dass deine Mutter unten das Telefongespräch mit dem Rettungsdienst beendete.«
»Ach, in der Zeit wäre gar nichts passiert, es war viel zu kurz.«
»Nein, war es nicht. Deine Mutter hielt die Verbindung mit dem Rettungsdienst und gab ständig Instruktionen an mich weiter, bis die Sanitäter an die Tür klopften. Ich tat so, als befolgte ich ihre Anweisungen. Aber sie konnte mich ja nicht sehen, Gideon, darum wusste sie nicht, dass ich Sonia gar nicht aus dem Wasser geholt hatte.«
»Ich glaube dir nicht. Du hast mich mein Leben lang belogen. Du hast nicht geredet. Du hast mir nichts gesagt.« »Ich sage es dir jetzt.«
Unten fuhr der Zug vorbei. Ich sah, wie der Lokführer im letzten Moment nach oben schaute. Unsere Blicke trafen sich, er riss die Augen auf und griff zu seinem Funksprechgerät. Die Warnung wurde an alle nachfolgenden Züge herausgegeben. Meine Chance auf Vergessen war verpasst.
Mein Vater sagte: »Du musst mir glauben. Ich sage die Wahrheit.«
»Was ist dann mit Katja?«
»Was soll mit ihr sein?«
»Sie kam ins Gefängnis. Und wir sind schuld daran, nicht wahr? Wir haben die Polizei belogen, und sie musste ins Gefängnis. Zwanzig Jahre, Dad. Das ist unsere Schuld.«
»Nein, Gideon. Sie war damit einverstanden.«
»Was?!«
»Komm zu mir. Komm da runter. Ich erkläre dir alles.«
Nun, das wenigstens ließ ich ihm: den Glauben, dass er es geschafft hätte, mich von den Gleisen wegzuholen, dabei wusste ich, dass wahrscheinlich
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