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11 - Nie sollst Du vergessen

11 - Nie sollst Du vergessen

Titel: 11 - Nie sollst Du vergessen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth George
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»Dick! Wo, zum Teufel, ist mein Whisky? Dick!« Und Großmutter ruft furchtsam von unten:
    »Ist Jack etwas zugestoßen?«
    Dann ist Sarahjane Beckett bei mir und sagt: »Was ist denn los?« Sie befreit mich aus Raphaels verzweifelter Umklammerung. »Raphael, was tun Sie mit ihm?«, fährt sie ihn an und fragt:
    »Du meine Güte, was ist denn mit der los?«, als sie Katja Wolff bemerkt, die schluchzend ruft: »Ich habe sie nicht allein gelassen. Nur eine Minute«, während Raphael sich in Schweigen hüllt.
    Danach bin ich in meinem Zimmer. Ich höre meinen Vater rufen: »Komm nicht hier rein, Eugenie. Ruf neun-neun-neun an.«
    Sie sagt: »Was ist passiert? Sosy! Was ist passiert?«
    Eine Tür wird zugeschlagen. Katja weint. Raphael sagt: »Lass mich sie hinunterbringen.«
    Sarahjane Beckett stellt sich in meinem Zimmer an die Tür und lauscht, den Kopf gesenkt. So bleibt sie stehen. Ich sitze, an das Kopfbrett gelehnt, auf meinem Bett, die Arme nass bis zu den Ellbogen, zitternd, da mir endlich die Ungeheuerlichkeit meiner Tat bewusst wird. Und die ganze Zeit hindurch hat die Musik gespielt, diese Musik, dieses verfluchte Stück, das Erzherzog-Trio, das mich seit zwanzig Jahren verfolgt wie ein böser Dämon.
    All das erinnerte ich im Laufen, und als ich die Kreuzung überquerte, versuchte ich nicht, dem Verkehr auszuweichen. Mir schien, es wäre eine Gnade, von einem Auto oder Lastwagen überfahren zu werden.
    Aber ich erreichte unverletzt die andere Straßenseite. Mein Vater war dicht hinter mir, immer noch meinen Namen rufend.
    Ich rannte weiter, floh vor ihm, floh in die Vergangenheit. Ich sah sie wie durch ein Kaleidoskop in rasch aufeinander folgenden Bildausschnitten: der joviale rotblonde Polizeibeamte, der nach Zigarren riecht und mit freundlich-väterlicher Stimme spricht ... der Abend im Bett mit meiner Mutter, die mich fest, fest, fest hält und mein Gesicht an ihren Busen drückt, als wollte sie mir das antun, was ich meiner Schwester getan habe ... mein Vater, der auf der Bettkante sitzt, seine Hände auf meinen Schultern ... seine Stimme: »Du brauchst keine Angst zu haben, Gideon, niemand wird dir etwas tun.« ... Raphael mit Blumen, Blumen für meine Mutter, Blumen der Anteilnahme, zur Linderung ihres Schmerzes ... und immer gedämpfte Stimmen, in jedem Raum, tagelang ...
    Endlich tritt Sarah-Jane von der Tür weg, an der sie die ganze Zeit reglos lauschend gestanden hat. Sie geht zum Kassettenrecorder. In dem Beethoven-Trio spielt der Geiger gerade eine Folge von Doppelgriffen. Sie drückt auf einen Knopf, und die Musik bricht ab. Sie hinterlässt eine so dumpf hallende Stille, dass ich sie mir zurückwünsche.
    In diese Stille hinein platzt das Heulen von Sirenen. Es wird mit dem Näherkommen der Fahrzeuge lauter und lauter. Obwohl sie wahrscheinlich nur Minuten gebraucht haben, scheint mir eine Stunde vergangen, seit mein Vater mich an den Haaren von der Wanne weggerissen und gezwungen hat, meine Schwester loszulassen.
    »Hier oben, hier drinnen«, ruft mein Vater die Treppe hinunter, als jemand die Sanitäter ins Haus lässt.
    Dann beginnen die Bemühungen, zu retten, was nicht mehr zu retten ist, ich weiß das, weil ich es war, der sie vernichtet hat.
    Ich kann sie nicht ertragen, die Bilder, die Gedanken, die Geräusche.
    Ich rannte weiter, blind, ziellos, es war mir egal, wohin die Flucht mich führte. Ich überquerte die Straße und kam schließlich unmittelbar vor dem Pembroke Castle Pub zur Besinnung. Ich erkannte die Terrasse, auf der im Sommer die Gäste sitzen und trinken, sie war jetzt leer, eine Mauer begrenzte sie, eine niedrige Backsteinmauer, auf die ich hinaufsprang, auf der ich weiter lief, und von der ich wieder hinabsprang, ohne einen Moment der Überlegung, hinab auf den eisernen Torbogen der Fußgängerbrücke, die die Eisenbahngleise zehn Meter darunter überspannt, und im Springen dachte ich, so ist es, so wird es enden.
    Ich hörte den Zug, bevor ich ihn sah. Ich nahm das als Zeichen. Der Zug fuhr nicht schnell, der Lokführer würde ihn leicht anhalten können, und ich würde nicht sterben -wenn ich nicht genau im richtigen Moment sprang.
    Ich trat an den Rand des Torbogens. Ich sah den Zug. Ich beobachtete sein Näherkommen.
    »Gideon!«
    Mein Vater stand am Ende der Fußgängerbrücke. »Bleib, wo du bist«, rief er laut.
    »Es ist zu spät.«
    Ich begann zu weinen wie ein kleines Kind und wartete auf den Moment, den richtigen Moment, wo ich mich vor den Zug auf die

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