11 - Nie sollst Du vergessen
zusammenbringen, wenn du das möchtest.«
»Was würde das helfen? Du hast selbst gesagt, das sie nicht gesehen -«
»Gideon, Herrgott noch mal! Was glaubst du, warum sie mich verlassen hat? Was glaubst du, warum sie alle Bilder deiner Schwester mitgenommen hat?«
Ich starrte ihn an und versuchte, seine Gedanken zu lesen. Mehr noch, ich versuchte, die Antwort auf eine Frage zu finden, die ich nicht aussprach: Selbst wenn ich mit ihr zusammenkäme, würde sie mir die Wahrheit sagen?
Doch mein Vater schien die Frage in meinen Augen zu erkennen, denn er sagte schnell: »Deine Mutter hat keinen Grund, dich zu belügen, mein Junge. Und die Art, wie sie aus unserem Leben verschwunden ist, muss dir doch sagen, dass ihr Gewissen das Leben in Heuchelei nicht ertrug, zu dem ich sie zwingen wollte.«
»Genauso gut könnte es bedeuten, dass sie nicht mit einem Sohn, der seine Schwester getötet hatte, unter einem Dach leben konnte.«
»Dann lass dir das von ihr selbst sagen.«
Auge in Auge standen wir einander gegenüber, und ich wartete auf ein Zeichen der Furcht an ihm. Aber es kam keines.
»Du kannst mir vertrauen«, sagte er.
Nichts wünschte ich mir mehr, als diesem Versprechen glauben zu können.
25
Barbara Havers sagte: »Es wär doch prima, wenn die Situation nicht alle fünfundzwanzig Minuten ein völlig anderes Gesicht bekäme. Dann könnten wir tatsächlich hoffen, den Fall in den Griff zu bekommen.«
Lynley bog in die Belsize Avenue ein und vergegenwärtigte sich den Stadtplan, um sich einen Weg zur Portman Street zu überlegen, der sie nicht mitten in einen Verkehrsstau führen würde.
Barbara, die neben ihm saß, schimpfte weiter. »Wer bleibt eigentlich, wenn's jetzt auch Davies erwischt hat? Leach wird schon Recht haben. Es kann eigentlich nur noch die Wolff dahinter stecken, die einen Kumpel mit einem Oldtimer hat, von dem wir noch nichts wissen. Der Kumpel leiht ihr den Wagen - wahrscheinlich völlig ahnungslos, wozu sie ihn braucht -, und sie fährt ihre Attacken auf die Leute, die sie in den Knast gebracht haben. Oder vielleicht attackieren die beiden auch gemeinsam. Das ist eine Möglichkeit, die wir noch nicht ins Auge gefasst haben.«
»Das würde voraussetzen, dass eine Unschuldige zwanzig Jahre im Gefängnis war.«
»Das soll schon vorgekommen sein«, erwiderte Barbara.
»Aber doch nicht, ohne dass die Unschuldige ihre Unschuld lautstark beteuert hat.«
»Sie kommt aus der ehemaligen DDR, einem totalitären Staat. Sie war gerade mal - wie lange war sie in England, als die Geschichte passierte? Zwei Jahre? Vielleicht drei? Plötzlich findet sie sich auf dem Polizeirevier wieder und wird vernommen. Alte Ängste werden wach, und sie hält es für das Klügste, kein Wort zu sagen. Mir leuchtet das ein. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie dort, wo sie herkommt, ein inniges Verhältnis zur Polizei hatte.«
»Ja, gut«, meinte Lynley, »es kann sein, dass die Polizei ihr Angst gemacht hat. Aber irgendjemandem hätte sie doch gesagt, dass sie unschuldig ist, Havers. Sie hätte doch bestimmt mit ihren Anwälten gesprochen. Aber das hat sie nicht getan. Was sagt Ihnen das?«
»Dass jemand sie beeinflusst hat.«
»Wie denn?«
»Weiß ich doch nicht.« Barbara zerrte frustriert an ihren Haaren, als könnte sie so irgendwelche neuen Ideen locker machen.
Lynley ließ sich ihre Vermutung durch den Kopf gehen. Er sagte: »Piepsen Sie mal Winston an. Vielleicht hat er etwas für uns.«
Barbara benutzte Lynleys Handy, um dies zu tun.
Sie arbeiteten sich zur Finchley Road durch. Der Wind, den ganzen Tag schon frisch, hatte im Lauf des späten Nachmittags an Kraft gewonnen und fegte jetzt Herbstlaub und Abfälle durch die Straße, während aus Nordwesten sich Regenwolken heranwälzten. Als sie von der Park Road in die Baker Street abbogen, fielen die ersten dicken Tropfen auf die Windschutzscheibe des Bentley. Die frühe Dämmerung des Novembers hatte sich über London herabgesenkt, und der immer dichter fallende Regen glitzerte im Licht der entgegenkommenden Scheinwerfer.
Lynley fluchte. »Das gibt eine schöne Schweinerei am Tatort.«
Barbara stimmte zu. Lynleys Handy läutete, und Barbara reichte es ihm hinüber.
Winston Nkata berichtete, dass, wenn die langjährige Geliebte Katja Wolffs nicht gelogen habe, diese entlastet sei, sowohl bezüglich des Mordes an Eugenie Davies als auch des Anschlags auf Webberly. Die zwei Frauen seien an beiden Abenden zusammen gewesen.
»Das ist nicht neu,
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