11 - Nie sollst Du vergessen
Unterricht bei Sarah-Jane.
War sie ein Mutterersatz für Sie?, fragen Sie.
Immer und immer wieder kommen Sie auf meine Mutter zurück. Suchen Sie nach ödipalen Verbindungen, Dr. Rose? Wie war's mit einem ungelösten Ödipuskomplex? Mutter entzieht sich ihrem Sohn, als dieser fünf Jahre alt ist, indem sie täglich zur Arbeit geht, und gibt dem armen Jungen so keine Möglichkeit, seine unbewusste Begierde, mit ihr zu kopulieren, zu verarbeiten. Als er acht oder neun ist oder wie alt auch immer, ich kann mich nicht erinnern, und es ist mir auch egal, verschwindet sie ganz aus seinem Leben und wird nie wieder gesehen.
Ich erinnere mich allerdings an ihr Schweigen. Merkwürdig. Das fällt mir erst jetzt ein, in diesem Moment. Das Schweigen meiner Mutter. Und ich erinnere mich, dass ich einmal, als sie noch bei uns war, nachts aufwachte und sie bei mir im Bett lag. Sie hält mich in den Armen, und ich kann kaum atmen, so wie sie mich hält. Sie hat die Arme um mich gelegt, und drückt meinen Kopf irgendwie ... Ach, ich weiß nicht mehr ...
Wie hält Ihre Mutter Sie, Gideon?
Ich weiß nicht mehr. Ich weiß nur noch, dass ich Mühe habe, Luft zu bekommen. Ich spüre ihren Atem, und es ist sehr heiß.
Ihr Atem ist heiß?
Nein, nein. Alles. Da, wo ich bin. Ich möchte fliehen.
Vor ihr?
Nein. Einfach fliehen. Weglaufen. Natürlich könnte das alles auch ein Traum gewesen sein. Es ist ja so lange her.
Ist es häufiger als einmal vorgekommen?, fragen Sie.
Ich sehe wieder mal genau, worauf Sie hinaus wollen, und ich mache da nicht mit. Ich werde nicht vorgeben, mich an irgendetwas zu erinnern, nur weil Sie es gern so hätten. Hier sind die Tatsachen: Meine Mutter liegt neben mir im Bett; sie hält mich in den Armen; es ist heiß; ich rieche ihr Parfüm. Und auf meine Wange drückt ein Gewicht. Ich fühle es. Es ist schwer und unbewegt, und es riecht nach Parfüm. Wie seltsam, dass ich mich an diesen Geruch erinnere! Ich könnte ihn nicht beschreiben, aber ich denke, wenn ich ihn irgendwo wahrnähme, würde ich ihn auf der Stelle wieder erkennen, und er würde mich an meine Mutter erinnern.
Ich vermute, sie hielt Sie zwischen ihren Brüsten, sagen Sie. Daher die Wahrnehmung von Schwere und Parfümgeruch. Ist es dunkel in Ihrem Zimmer, oder brennt vielleicht ein Licht?
Ich weiß nicht. Ich erinnere mich nur an die Hitze, die Schwere, den Duft. Und an das Schweigen.
Haben Sie danach mit irgendeinem anderen Menschen so gelegen? Mit Libby vielleicht? Oder einer anderen Frau? Vor Libby?
Lieber Gott, nein! Es geht hier nicht um meine Mutter! Gut. Ja. Ich weiß natürlich, wie schwer in meinem Leben die Tatsache wiegt, dass sie mich - uns - verlassen hat. Ich bin schließlich kein Idiot. Ich komme von einer Reise durch Österreich nach Hause, und meine Mutter ist fort, ich sehe sie nie wieder, höre nie wieder ihre Stimme, bekomme keinen einzigen Brief von ihr ... Ja, ja, Sie brauchen es mir nicht zu sagen, das ist ein tief einschneidendes Erlebnis. Und ich kann mir vorstellen, was ich als Kind daraus geschlossen haben könnte, dass ich verlassen wurde: Es ist meine Schuld. Vielleicht habe ich es damals tatsächlich so empfunden, aber bewusst war es mir nicht, und ganz sicher empfinde ich es heute nicht mehr so. Sie hat uns verlassen. Und aus.
Und aus? Wie meinen Sie das?, fragen Sie.
Genauso. Wir haben nie wieder von ihr gesprochen. Oder zumindest ich nicht. Wenn meine Großeltern und mein Vater von ihr gesprochen haben, oder Raphael, Sarah-Jane und James, der Untermieter - Er war noch da, als sie fort ging?
Er war da - oder nein? Nein. Er kann nicht da gewesen sein. Es war Calvin. Sagte ich nicht, dass es Calvin war? Ja, natürlich, Calvin versuchte damals telefonisch Hilfe zu holen, als meine Mutter gegangen war und mein Großvater eine seiner »Episoden« hatte. James hatte sich längst aus dem Staub gemacht.
Aus dem Staub gemacht, wiederholen Sie. Das klingt irgendwie nach Heimlichkeit. War es denn mit Heimlichkeiten verbunden, als James bei Ihnen auszog?
Bei uns gab es überall Heimlichkeiten. Schweigen und Heimlichkeiten. So kommt es mir jedenfalls vor. Ich betrete ein Zimmer, und sofort wird es still. Ich weiß, dass sie von meiner Mutter gesprochen haben, aber ich darf nicht von ihr sprechen.
Was geschieht denn, wenn Sie es tun?
Ich weiß es nicht. Ich habe es nie ausprobiert.
Warum nicht?
Die Musik ist der Mittelpunkt meines Lebens. Ich habe die Musik. Ich habe sie immer noch. Mein Vater, meine
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