11 - Nie sollst Du vergessen
Großeltern, Sarah-Jane und Raphael, sogar Calvin, der Untermieter - wir alle haben immer noch die Musik.
War das denn ein ausdrückliches Gebot? Ich meine, dass Sie nicht nach Ihrer Mutter fragen sollen? Oder ging das stillschweigend?
Letzteres, wahrscheinlich - ich weiß es nicht. Sie kommt uns bei unserer Rückkehr aus Österreich nicht entgegen, um uns zu begrüßen. Sie ist fort, aber niemand verliert ein Wort darüber. Im Haus ist jede Spur von ihr gelöscht. Es ist, als hätte sie dort nie gelebt. Und alle schweigen. Sie tun nicht so, als wäre sie verreist. Sie tun nicht so, als wäre sie plötzlich gestorben oder als wäre sie vielleicht mit einem anderen Mann durchgebrannt. Sie verhalten sich so, als hätte sie nie existiert. Und das Leben geht weiter.
Sie fragten nie nach ihr?
Ich muss gewusst haben, dass sie eines der Themen war, über die bei uns nicht gesprochen wurde.
Eines? Gab es denn noch andere?
Vielleicht habe ich sie nicht vermisst. Ich erinnere mich nicht, sie vermisst zu haben. Ich weiß kaum noch, wie sie ausgesehen hat, nur dass sie blonde Haare hatte und immer ein Kopftuch aufsetzte, so wie es die Queen trägt. Aber das wird in der Kirche gewesen sein. Ah ja, daran erinnere ich mich auch, dass ich mit ihr in der Kirche war. Ich weiß, dass sie geweint hat. Ja, sie weint bei der Morgenmesse, und vorn in der Klosterkapelle sitzen die Nonnen, auf der anderen Seite des Lettners, oder Lettner ist vielleicht nicht der richtige Ausdruck, es ist mehr ein Gitter, das sie von den Laien trennen soll. Aber bei der Frühmesse sind nie Laien da, vor denen sie sich abschirmen müssten. Nur meine Mutter und ich. Von den Nonnen trägt nur eine die Ordenstracht, die anderen sind alle ganz normal gekleidet, wenn auch sehr einfach und mit Kreuzen auf der Brust. Meine Mutter kniet, sie kniet immer bei der Messe, und hat den Kopf auf ihre Hände gelegt. Sie weint die ganze Zeit, und ich weiß nicht, was ich tun soll.
Warum weint sie?, wollen Sie natürlich wissen.
Ich weiß es nicht, sie weint eigentlich immer. Nach der Kommunion, aber noch vor dem Ende der Messe, kommt die eine Nonne, die in Tracht ist, zu meiner Mutter und führt uns beide in ein Sprechzimmer oder so etwas, im Kloster nebenan. Dort spricht sie mit meiner Mutter. Die beiden sitzen in der einen Ecke des Zimmers, und ich in der anderen, ihnen schräg gegenüber. Man hat mir ein Buch zum Lesen gegeben und mir geboten, mich zu setzen. Ich bin voller Ungeduld, ich möchte nach Hause. Raphael hat mir versprochen, mit mir zur Belohnung in die Festival Hall zu gehen, wenn ich die Übungen, die er mir aufgegeben hat, fehlerfrei spiele. Dort gibt Ilya Kaier ein Konzert. Er ist noch keine zwanzig Jahre alt, aber er hat beim Paganini-Wettbewerb in Genua schon den ersten Preis gewonnen, und ich möchte ihn unbedingt hören. Ich bin nämlich fest entschlossen, ihn eines Tages weit zu übertreffen.
Wie alt sind Sie zu der Zeit?, fragen Sie.
Sechs, glaube ich, höchstens sieben. Und ich möchte schnellstens nach Hause. Ich stehe also von meinem Stuhl auf, gehe zu meiner Mutter und zupfe sie am Ärmel. »Mama, mir ist langweilig«, sage ich. Das sage ich immer, das ist meine Art der Kommunikation. Nicht: Ich muss noch üben, Mama. Sondern: Mir ist langweilig, und es ist deine Pflicht als meine Mutter, etwas dagegen zu tun. Aber Schwester Cecilia - ja, so hieß sie, ich erinnere mich jetzt wieder - nimmt mich bei der Hand und führt mich zu meinem Stuhl in der Ecke zurück. »Du wirst brav hier sitzen bleiben, bis zu geholt wirst, Gideon«, sagt sie ruhig und bestimmt, und ich bin fassungslos. So spricht niemand mit mir! Ich bin schließlich das Wunderkind. Ich bin - um es einmal so auszudrücken - einmaliger als jeder andere in meiner Welt.
Vielleicht aus Verblüffung über die ungewohnte Maßregelung, noch dazu von so einer Frau, bleibe ich zunächst in meiner Ecke, während Schwester Cecilia und meine Mutter sich mit leisen Stimmen weiter unterhalten. Aber nach einigen Minuten beginne ich mit den Füßen gegen ein Bücherregal zu treten, mit zunehmender Wucht, bis die ersten Bücher herunterfallen und eine Marienstatuette zu Boden stürzt und zerspringt. Kurz danach nimmt meine Mutter mich bei der Hand, und wir gehen.
An diesem Morgen glänze ich beim Musikunterricht, und Raphael geht am Abend mit mir wie versprochen ins Konzert. Er hat ein Treffen mit Ilya Kaier arrangiert, ich habe meine Geige mitgebracht, und wir musizieren zusammen. Kaier ist
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