11 - Nie sollst Du vergessen
gekommen, weil mein Vater möchte, dass ich wieder zu meiner Musik finde. Darum bin ich zu Ihnen gekommen.
5. September
Niemand sonst weiß die Wahrheit, nur wir drei: mein Vater, Raphael und ich. Nicht einmal meine PR-Agentin weiß, was wirklich los ist. In ärztlicher Behandlung, hat sie bekannt gegeben und den Leuten erzählt, es handle sich um körperliche Erschöpfung.
Wahrscheinlich werden die meisten hinter meinem Verhalten nichts als Starallüren sehen, aber das soll mir recht sein. Sollen sie ruhig vermuten, ich wäre gegangen, weil mir die Beleuchtung im Saal nicht passte; Hauptsache, die Wahrheit sickert nicht durch.
Welche Wahrheit meinen Sie?, fragen Sie.
Gibt es denn mehr als eine?, frage ich zurück.
Aber gewiss, sagen Sie. Die eine Wahrheit ist das, was Ihnen zugestoßen ist. Man nennt das eine psychogene Amnesie. Die andere Wahrheit ist das Warum dieses plötzlichen teilweisen Gedächtnisverlusts. Und die Frage nach dem Warum ist der Anlass unserer Gespräche.
Wollen Sie damit sagen, solange wir nicht wissen, warum ich diese - diese - wie nannten Sie es -?
Psychogene Amnesie. Es ist ähnlich wie hysterische Lähmung oder Blindheit: Ein Teil von Ihnen, der stets perfekt funktioniert hat - in diesem Fall Ihr musikalisches Gedächtnis, wenn Sie es so nennen wollen -, streikt plötzlich. Und solange wir nicht wissen, woher diese Störung kommt, was dahinter steckt, können wir sie nicht beheben.
Ich frage mich, ob Sie eine Ahnung haben, wie furchtbar mich diese Eröffnung erschreckt, Dr. Rose. Sie sagen mir das mit teilnehmendem Verständnis, aber ich komme mir trotzdem wie ein Krüppel vor. Ja, ja, ich weiß, das ist ein Wort aus meiner Kindheit, Sie brauchen mich nicht darauf hinzuweisen. Ich kann ja jetzt noch hören, wie mein Großvater es meinem Vater ins Gesicht brüllt, während sie ihn aus dem Haus zerren, und heute noch beschimpfe ich mich selbst täglich mit diesem Wort. Du bist ein Krüppel, sage ich zu mir. Ein armseliger Krüppel. Den Garaus sollte man dir machen, du Krüppel.
Sind Sie denn wirklich einer?, fragen Sie.
Aber ja, was sonst? Ich bin nie in meinem Leben Fahrrad gefahren, ich habe nie Rugby oder Cricket gespielt, nie einen Tennisball geschlagen, ich bin nicht einmal zur Schule gegangen. Ich hatte einen Großvater, der regelmäßig psychotische Schübe hatte, eine Mutter, die wahrscheinlich als Nonne im Kloster glücklicher gewesen wäre und dort vermutlich auch endete, einen Vater, der Tag und Nacht schuftete, um mir eine Karriere zu ermöglichen, und einen Geigenlehrer, der mich von Konzertreisen zu Schallplattenterminen schleppte und niemals aus den Augen ließ. Ich wurde verwöhnt, verhätschelt und angebetet, Dr. Rose. Kann ein Mensch unter solchen Bedingungen »normal« bleiben? Da muss man doch zum Krüppel werden!
Ist es ein Wunder, dass ich von Magengeschwüren gequält werde? Dass ich mir vor jedem Auftritt, mit Verlaub, die Seele aus dem Leib kotze? Dass mir das Hirn manchmal wie ein Vorschlaghammer im Schädel dröhnt? Dass ich seit mehr als sechs Jahren unfähig bin, mit einer Frau zu schlafen? Und selbst als ich das noch konnte, war der Akt niemals mit Nähe, Lust oder Leidenschaft verbunden, sondern immer nur mit einem Drang, es zu erledigen, es hinter mich zu bringen, mir meine armselige Befriedigung zu holen und die Frau möglichst schnell wieder loszuwerden.
Was ist denn einer wie ich anderes als ein Krüppel, Dr. Rose?
7. September
Libby fragte heute Morgen, ob etwas nicht in Ordnung sei. Sie kam im gewohnten Freizeitlook - Overall, T-Shirt, Wanderstiefel - aus dem Haus, offenbar in der Absicht, ein paar Runden zu laufen. Jedenfalls hatte sie wie meistens, wenn sie in Sachen Fitness unterwegs ist, ihren Walkman auf. Ich saß oben auf der Fensterbank und schrieb brav an meinem Tagebuch, als sie heraufschaute und mich sah. Und schon war sie da.
Sie probiere gerade eine neue Diät aus, erzählt sie. Die so genannte »Kein-Weiß-Diät«. »Ich hab es mit der Mayodiät probiert, mit der Kohlsuppendiät, der Kartoffeldiät, der Scarsdale-Diät, wirklich mit allem, und nichts hat was gebracht. Darum mach ich jetzt diese neue Kur.« Bei der man, wie sie mir erklärt, essen darf, was man will, solange es nicht weiß ist. Auch weiße Nahrungsmittel, die künstlich gefärbt sind, sind verboten.
Ich weiß inzwischen, dass sie von der fixen Idee geplagt wird, zu dick zu sein, und ich verstehe bis heute nicht, wieso. So weit ich sehen kann - nicht allzu weit,
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