1105 - Glendas Totenhemd
Nun war sie am Ende und schloß ihre Lippen.
Glenda und ich blickten uns an. So ganz verstanden wir es beide nicht. So wie Isabella »Totenhemd« ausgesprochen hatte, da hatte er sich schon schaurig angehört.
Auch ich mußte mich erst innerlich darauf einstellen und wollte wissen, ob das Totenhemd auch einen Vorbesitzer gehabt hatte.
Isabella zögerte mit der Antwort. Sie redete dann darum herum und meinte dann: »Ja, es hat einen Besitzer gehabt. Das weiß ich von der alten Verkäuferin.«
»Wer ist es denn gewesen?«
Bei der folgenden Antwort, die sie nur sehr leise gab, schien ihr Gesicht zu versteinern. »Ein Engel«, flüsterte sie. »Es ist das Totenhemd eines Engels gewesen. Darin muß er begraben worden sein. Ja, so hat sie es mir gesagt. Er war ein Engel…«
»Kennen Sie seinen Namen?«
»Nein.«
»Wissen Sie mehr über Engel?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nur was man sich so erzählt. Das Kleid ist ein Vermächtnis. Es besitzt unwahrscheinlich starke Kräfte. Es kann einen Menschen völlig verändern. Ich habe es gespürt. Ich mußte es einfach anziehen.«
»Haben Sie das heute zum erstenmal getan?« erkundigte sich Glenda mit leiser Stimme.
»Nein, das habe ich nicht. Ich zog es öfter an. Aber so wie heute ist es noch nie gewesen. Ich habe schon immer seine Wärme gespürt und seine andere Kraft, doch ich hätte nie gedacht, daß mich das Totenhemd zu dem Friedhof bringen könnte. Dort liegen sie begraben. Ich weiß nicht, wer sie sind. Trotzdem haben sie nach mir geschrieen und mich immer wieder gerufen. Jetzt aber weiß ich, daß ich nicht würdig bin. Es ist ein Fehler gewesen, es überzuziehen. Andere sind besser und auch würdiger als ich es bin.«
Isabella hatte viel geredet, aber wenig gesagt. Wir konnten es glauben oder nicht, doch ich war ziemlich skeptisch. War es ein Kleid, ein Totenhemd oder beides?
Ich ging hin und hob es hoch. Dabei machte ich mich darauf gefaßt, daß etwas passierte, weil ein Unwürdiger den Stoff berührte, doch es blieb alles normal.
Es war recht leicht und entsprach durch sein Gewicht einem Totenhemd. Eine Mischung aus beidem. Ein dünner Stoff, der trotzdem irgendwie fest und griffig war.
Ich winkte Glenda herbei. »Bitte, faß es mal an und heb es hoch. Ich will hören, was du dazu sagst.«
Sie wog es in der Hand und runzelte die Stirn. »Meiner Ansicht nach besteht der Stoff aus Leinen.«
Ich verzog die Lippen. »Bestes Linnen. Gerade richtig für einen Engel, Glenda.«
»Glaubst du es?«
»Keine Ahnung. Hast du eine bessere Idee?«
»Nein, denn wir müssen uns schon damit abfinden. Unmöglich ist nichts, das hast du auch immer gesagt. Warum nicht auch ein Kleid oder Totenhemd, das einen Menschen verändert?«
»Hatten wir das nicht schon, John?«
»Ja, aber in einer anderen Form. Da ist dann ein Kleidungsstück aus Menschenhaut genäht worden. Aus der eines Dämonen.« Ich zerknüllte den Stoff mit der rechten Hand. »Dieses hier ist ein normaler Stoff, Glenda. Keine Haut. Weder von einem Menschen noch von einem Dämon. Da kann man reden, was man will. Oder siehst du das vielleicht anders?«
»Auch nicht.«
»Eben. Aber ich glaube daran, daß es einem Engel gehört hat. Das Totenhemd eines Engels.«
Sie war erstaunt, und ihre Frage hörte sich auch so an. »Gibt es das denn überhaupt?«
»Warum nicht?« Ich zuckte die Achseln. »Ich weiß zwar nicht genau, was geschieht, wenn Engel sterben und ob sie begraben werden wie wir Menschen…«
»Der alte Friedhof, John«, unterbrach sie mich. »Könnte das nicht ein Friedhof für Engel sein?«
Ich wiegte den Kopf. »Vielleicht der gefallenen Engel.«
»Wobei wir bei den Dämonen wären. Gefallene Engel sind doch zu Dämonen geworden.«
»Oder in Aibon gelandet.«
»Das auch.«
Wir befanden uns in einer nicht eben glücklichen Lage, weil wir einfach zu wenig wußten. Isabella konnte uns sicherlich mehr erzählen, und das mußte sie auch einfach tun. Sie war diejenige, die das Kleid getragen hatte, und sie würde uns ihre Gefühle erklären können und auch müssen.
Das Totenhemd lag nicht mehr auf dem Boden. Isabella hatte es aufgehoben und auf der Theke neben der Kasse ausgebreitet, wie ein zum Verkauf ausgestelltes Teil. Sie stand daneben und strich gedankenverloren die Falten glatt.
Ich trat zu ihr. Langsam hob die Frau den Kopf. »Es ist wohl besser, wenn Sie jetzt gehen und alles vergessen, was Sie hier gesehen haben und was ich Ihnen gesagt habe.«
»Tut mir leid, aber das genau
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