1105 - Glendas Totenhemd
zuvor geschlossen hatte.
Ich ging auf die Person zu. Glenda hielt sich zurück und überließ mir das Feld. Dicht vor der Person blieb ich stehen und schaute in das gezeichnete Gesicht.
Es hatte einige Kratzer abbekommen, aus denen Blutstropfen sickerten. Sie vermischten sich mit dem Schweiß, der auf dem Gesicht ebenfalls eine Schicht gebildet hatte. Die Lippen zuckten. Wenn sie sich öffneten, stieß sie mühsame Worte hervor. Dabei waren ihre Augen geschlossen. Hin und wieder schüttelte die Frau den Kopf, um etwas Schlimmes zu vertreiben, was sich in ihre Erinnerung hineingebohrt hatte.
»Wer sind Sie?« sprach ich sie leise an.
Sie reagierte nicht.
Ich berührte sie leicht an der Schulter und zog meine Hand sofort wieder zurück, weil die Person zusammengezuckt war. Sie hob auch ein Bein an und preßte es gegen ihre Wade.
»Bitte, wir sind hier, um Ihnen zu helfen. Wir wollen Ihnen nichts tun. Sie müssen uns vertrauen.«
»Vertrauen?« fragte sie leise.
»Ja, bitte.«
»Das kann ich nicht. Ich kann keinem vertrauen. Es ist unmöglich. Nein, man wird mir nicht glauben. Es passieren Dinge, die man nicht beschreiben kann.«
Ich versuchte es noch einmal, und fragte mit leiser Stimme: »Wie heißen Sie? Sind Sie Isabella? Gehört Ihnen das Geschäft hier?«
Erst jetzt schaute sie mich an. Der Ausdruck der Angst in ihren Augen war gewichen. Zwar herrschte noch ein tiefes Mißtrauen vor, aber sie nahm Glenda und mich zumindest zur Kenntnis, denn sie fragte: »Wer sind Sie?«
Ich teilte ihr unsere Namen mit. Sie nahm sie hin. Ihr Nicken danach kam mir vor wie eine neutrale Geste, ohne daß sie etwas begriffen hatte.
Glenda fragte: »Und wer sind Sie?«
»Isabella.«
»Die Besitzerin also.«
»So ist es.« Sie drehte sich von der Wand weg und griff nach einem dunkelblauen Kleid, das sie vom Bügel rutschen ließ. Sie kletterte hinein, ohne sich um uns zu kümmern. Mit zittrigen Händen schloß sie die großen, weißen Knöpfe an der Vorderseite.
»Warum ziehen Sie das andere Kleid nicht an?« fragte ich sie.
Isabella fuhr herum. »Nein, nicht mehr. Ich… ich… bin nicht würdig, es zu tragen.«
»Wer sagt das?«
»Die Toten«, flüsterte sie. »Die Toten auf dem Friedhof haben es mir gesagt.«
Glenda und ich waren überrascht. Mit einer derartigen Wendung hatten wir nicht gerechnet. »Wo finden wir den Friedhof?« wollte ich wissen. »Waren Sie dort?«
»Ja…« Sie ging einen Schritt nach vorn und blieb wie eine Statue stehen, die ins Leere schaut. »Ich kann es euch nicht sagen, denn ich weiß es nicht. Es liegt im Nichts. Im Reich der Toten. Im Jenseits oder an der Grenze.« Sie strich ihr Haar zurück. »Es ist alles so unwahrscheinlich, aber ich habe es erlebt.«
»Durch das Kleid?«
»Sicher.«
»Sie zogen es an?« flüsterte Glenda.
»Ja.«
»Und dann? Was passierte mit Ihnen?«
Isabella räusperte sich. »Ich weiß es nicht. Ich kann es Ihnen nicht genau sagen. Ich war plötzlich nicht mehr da, aber es gab mich trotzdem. Ich weiß auch nicht, ob ich mein Menschsein aufgegeben habe. Ich fühlte mich so anders, so verloren, nicht beschützt und schrecklich allein.«
»Dann fanden Sie den Friedhof?«
Sie hob die Schultern. »Ich ging auf in zu. Er war nicht groß, aber er stand mit alten Grabsteinen voll. Er war grau, nur grau, wie der Himmel. Es gab keine andere Farbe. Ich bin nur den Stimmen der Toten gefolgt, die mich gerufen haben. Ich ging zwischen den Grabsteinen einher, aber sie merkten, daß ich die falsche war. Sie wollten mich nicht. Sie sagten, daß ich nicht würdig bin. Nicht würdig. Eine andere muß wohl her. Ich kann es nicht sein…«
»Das geschah, nachdem Sie das Kleid angezogen haben?« Sie nickte.
»Was ist das für ein Kleid?« fragte Glenda. »Es muß doch etwas Besonders damit sein. Woher haben Sie es? Gekauft?«
»Erworben. Bei einer alten Frau. Sie verkaufte viele Kleider, und sie zog mit einem Wagen über das Land. Von Markt zu Markt. Sie hat keinem anderen das Kleid verkauft, sondern nur mir, denn sie meinte, daß ich die richtige Person wäre. Ich habe es dann genommen und nur ein Pfund als symbolische Summe bezahlt. Als ich es dann erworben hatte, da riet sie mir, es nie aus den Augen zu lassen, denn es barg Geheimnisse. Es war ein außergewöhnliches Kleid, das Menschen verändern kann, wenn sie es überstreifen. Aber sie hat noch etwas gesagt, und das glaube ich ihr auch. Sie hat es als Totenhemd bezeichnet.«
Isabella hatte recht lange gesprochen.
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