1106 - Zombie-Engel
an einer Hand abzählen. Um diese Zeit lagen die meisten Menschen im Bett. Es hatte etwas geregnet. Das alte Pflaster hatte einen feuchten Schimmer bekommen. Geräusche oder Leute, die mich mißtrauisch gemacht hätten, waren nicht zu hören. Die Gegend schlief. Kein hier in der Nähe lebender Mensch ahnte, was sich in diesem Secondhandshop abgespielt und daß es dort schon drei Tote gegeben hätte.
Ich ging wieder zurück. Suko hatte seinen Platz verlassen. Er empfing mich an der Tür. Seinem Gesicht sah ich an, daß inzwischen etwas passiert war.
»Ich wollte dich soeben holen, John.«
»Was ist denn los?«
»Komm mit.«
Auf den ersten Blick war nichts zu sehen. Alle Kleider hingen noch so wie immer. Auch an der Verkaufstheke zeigte sich keine Veränderung.
Die Kasse stand an ihrem Platz, und in den Regalen lagen die übrigen Klamotten. Niemand hatte sie verrückt oder woanders hingelegt.
»Was willst du denn?«
»Das Kleid.«
Mehr brauchte er nicht zu sagen, um mich zu alarmieren. Beim Eintreten hatte ich gesehen, daß es noch immer an der gleichen Stelle stand. Auf den ersten Blick war auch keine Veränderung festzustellen. Beim Näherkommen allerdings erkannte ich sehr bald, was meinen Freund so mißtrauisch hatte werden lassen.
Das Totenhemd bewegte sich…
Es warf Falten, obwohl niemand sich damit beschäftigte. Ich sah, wie der Stoff leicht zitterte. Er bewegte sich, und auch die hochgestellten Träger zuckten.
»Hast du so etwas schon gesehen?« fragte mich mein Freund.
»Nein, habe ich nicht.«
»Die andere Welt gibt uns ein Zeichen. Ich bin fest davon überzeugt, daß sich hier etwas ändern wird, John. Wir können mit einer Rückkehr rechnen.«
Er hatte den Namen Glenda nicht ausgesprochen. Es war auch nicht nötig, denn beide gingen wir davon aus, daß es Glenda sein mußte.
Oder hofften es zumindest. Und wir hofften weiter, daß sie völlig normal sein würde und kein toter Körper plötzlich innerhalb des Stoffs steckte.
Ich war dicht an das Totenhemd herangetreten, ohne es zu berühren. Ich wollte nichts falsch machen und warf von oben her einen Blick in den weiten Ausschnitt.
Nein, es gab nichts für mich zu sehen. Abgesehen von dem normalen Fußboden mit dem schmutzigen Filz. Aber die Bewegungen des Totenhemdes blieben. Das Zittern des Stoffs. Ich konnte mich nicht mehr zurückhalten und klammerte eine Falte zwischen meine Finger. Dabei rieb ich leicht hin und her.
Etwas knisterte wie eine elektrische Ladung, die plötzlich den Stoff erfaßt hatte. Das Totenhemd schien auch leicht zu vibrieren - und es füllte sich mit Licht.
So schnell und überraschend für mich, daß ich unwillkürlich einen Schritt zurückwich.
Helles Licht. Es war fast zu vergleichen mit dem meines Kreuzes, wenn es aktiviert worden war. Das Licht füllte das Kleid vom Boden her bis zum Ausschnitt hin aus. Es war nicht so hell, daß es uns geblendet hätte, wir konnten schon hineinschauen und sahen, daß sich etwas darin bewegte.
Die Gestalt drängte sich hoch.
Sie war nackt.
»Das ist Glenda!« brach es aus mir hervor.
Weder Suko noch ich mischten uns ein. Wir ließen alles so laufen wie es war, und plötzlich materialisierte sich die Gestalt direkt vor unsere Augen und innerhalb des Kleides. Das Licht verschwand und nahm feste Formen an.
Der Mensch Glenda war zurückgekehrt. Ihr Körper füllte das Kleid aus.
Die dünnen Träger lagen über ihren Schultern. Jetzt sah das Totenhemd aus, als wäre es ihr auf den Leib geschnitten worden.
Ich war wie vor den Kopf geschlagen. Obwohl ich es mir gewünscht und auch damit gerechnet hatte, war die Rückkehr unserer Sekretärin und Assistentin doch überraschend gekommen.
Glenda sah blaß aus, aber sie war auch unverletzt, und das gab uns wieder Mut.
Wir hörten sie laut atmen. Ihre Hände bewegten sich. Mal streckten sie sich, mal wurden sie zu Fäusten, aber eines stand schon jetzt fest. Es war ihr gelungen, die andere Welt zu verlassen.
Noch etwas entdeckten wir im Hintergrund, trotzdem nebenbei, aber auch verwaschen.
Eine dunkle Männergestalt mit schwarzen Haaren, die lächelte und dann verschwunden war.
Ich hatte sie trotzdem erkannt und sprach sehr leise ihren Namen aus.
»Raniel…«
In diesem Moment öffnete Glenda die Augen…
***
Sie schaute uns an, doch es war fraglich, ob sie uns überhaupt sah. Ihr Blick war ins Leere gerichtet. Er glitt an uns vorbei und zugleich hindurch. Sie bewegte die Augen. Die Stirn hatte sich in kleine Falten
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