1115 - Die Tränen des Toten
denn?«
»Hör selbst.«
Auch Suko lauschte jetzt. Er legte seine Stirn in Falten, die Lippen hielt er hart zusammengepreßt, und beide Hände waren zu Fäusten geballt.
Einen Moment später zuckten wir beide zusammen, denn wir hatten den langgezogenen Schrei einer Frau gehört.
»Shao!« keuchte Suko und wurde leichenblaß.
***
Ich falle!
Es war wie ein Schrei, der in Shao tobte. Er begleitete auch den Schrei, der sich automatisch aus ihrem Mund gelöst hatte und durch den Fahrstuhlschacht hallte.
Sie raste in die Tiefe. Panik überwältigte sie. Eine Angst, wie sie sie in der letzten Zeit nicht mehr erlebt hatte. In Sekundenschnelle verdichteten sich ihre Gedanken. Da kam alles zusammen. Es strömte von verschiedenen Seiten auf Shao ein, als sollte noch einmal das Leben vor ihren Augen ablaufen, bevor sie fünf Stockwerke tiefer auf den Boden prallte und mit gebrochenen Knochen liegenblieb.
Shao erlebte den Sturz in die Tiefe sehr intensiv. Sie hatte den Eindruck, von der Luft getragen zu werden und trotzdem nach unten zu rasen. Sie hielt sogar die Augen offen, um sehen zu können.
Über ihr war der Boden des Lifts verschwunden. Nichts mehr war zu erkennen, es ging eben nur weiter nach unten.
»Nicht aufgeben! Nicht aufgeben! Du bist besser als viele anderen. Du bist gut, Shao…«
Sie bildete sich die Stimme nicht ein. Amaterasu hatte zu ihr gesprochen. Die Sonnengöttin war in der Nähe und trotzdem weit entfernt. Shao wußte nicht mehr, ob sie noch weiter in die Tiefe fiel oder gestoppt worden war. Jedenfalls hatte sie sich im Schacht gedreht und schaute zurück.
Der Boden des Fahrstuhls zitterte. Nebel durchdrang ihn. Die kalte Wolke schützte Agashi und den Dunklen Schrecken, während sie weiter in die Tiefe fiel. Oder glitt?
Shao überschlug sich wieder. Sie prallte gegen Mauerwerk. Sie hielt ihre Waffe wie im Krampf fest und hoffte, daß sie nicht alle Pfeile verlor, obwohl sie kaum noch in der Lage sein würde, sich zu wehren. Aber sie wollte und mußte durchhalten. Sie kämpfte. Sie schrie wieder und hörte das Echo ihrer eigenen Stimme überlaut.
Aber auch die Sonnengöttin.
Sie war da.
Sie faßte zu.
Nicht mit der Hand. Sie machte es anders. Plötzlich schwebte etwas vor Shaos Augen. Ein großes Gesicht. Lächelnd, gütig und trotzdem streng. Mit einer Haut, über der ein leichter goldener Schimmer lag.
»Wir schaffen es - komm!«
»Nein, ich…«
»Vertraue auf mich.«
»Wieso kann ich…«
»Deine Hand - schnell!«
Shao wußte nicht, ob sie träumte. Sie hörte dafür ein Rumpeln. Sie fiel auch nicht mehr. Jetzt wußte sie, daß sie schwebte und wie von einem feinen Netz aufgefangen worden war.
Aber die Kabine raste ihr entgegen. Und sie hielt keiner auf. Shao sollte zusätzlich noch am Boden des Fahrstuhlschachts zerquetscht werden, durch den sie jetzt noch trieb.
Das war die Hand der Amaterasu. Sie erschien inmitten eines goldenen Hauchs, den Amaterasu mitgebracht hatte, und Shao griff sofort zu. Es war wirklich der letzte Augenblick gewesen. Während sie noch im Schacht »schwamm«, hörte sie das harte Sausen und Poltern des Lifts. Sie glaubte noch, von einem Luftzug erwischt zu werden, der sie mitreißen wollte, und sie schrie auch wieder.
Diesmal hallte ihr Schrei hinein in eine andere Dimension, in die sie von der Sonnengöttin gezerrt wurde.
Die Kabine aber rauschte vorbei und damit dem Endpunkt des Schachts entgegen…
***
Der Schrei war verklungen. Wir standen noch immer vor der Tür. Suko mit gequältem Gesicht. Auf seinen Zügen malte sich die Angst um Shao ab. Hätte ich in einen Spiegel geschaut, ich hätte mich blaß wie eine Leiche gesehen.
Wir waren so hilflos. Es gab keinen Weg zu ihr. Die verdammte Lifttür sperrte uns aus.
Und plötzlich war alles wieder normal. Die Kabine fand ihren Weg nach unten. Auf der an der Wand angebrachten Leiste erhellten sich die einzelnen Zahlen.
Er kam nach unten.
Wir warteten. Und wir waren gespannt und höchst besorgt zugleich. Wir sprachen nicht darüber, was uns möglicherweise erwartete, wenn sich die Tür öffnete. Jeder betete im Innern, daß uns der Schrei getäuscht hatte und uns das Schicksal gnädig gewesen war.
Der Reihe nach blinkten die Knöpfe auf, die uns vorkamen wie höhnische Grüße. Zahlen erhellten sich. Ich zählte im Geiste mit.
Drei… zwei… eins… der Keller und die Tiefgarage. Die Kabine war da.
Wir atmeten aus. Für die Dauer weniger Herzschläge blieben wir unbeweglich stehen. Suko
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