1115 - Die Tränen des Toten
erlebte eine Gefühlsaufwallung. Er hatte seine Sicherheit verloren und war nicht in der Lage, die Tür aufzuziehen, die sich auch nicht von selbst öffnete.
»Bitte, John…«
»Okay.«
Ich drückte den entsprechenden Knopf. Ein kurzes Leuchten, dann schob sich die Fahrstuhltür auf.
Der erste Blick in die Kabine war der schlimmste, denn ich sah das verdammte Blut. Es hatte sich auf dem Boden verteilt, und ich sah auch die Gestalt, die in einer Ecke lag und deren Gesicht und auch Kopf durch einen Pfeil zertrümmert worden war.
Es existierte ein Loch im Boden. Nicht zu groß, aber so breit, um einen Menschen durchfallen zu lassen. Wie Shao, zum Beispiel, aber die war nicht zu sehen.
Auch Suko hatte sich aufgerafft und schaute jetzt in die Liftkabine hinein. Er sah die zerstörte Decke, dann das Loch im Boden, und er senkte den Blick.
Ich beruhigte ihn. »Suko, ich denke nicht, daß Shao zerschmettert worden ist.«
»Nein…?«
»Es muß etwas anderes passiert sein. Ich glaube, daß sie es geschafft hat.«
»Wie denn?«
»So wie die Personen, die noch mit ihr in der Kabine gewesen sind. Oder glaubst du, daß Shao den Boden und das Dach einfach aufgerissen hat?«
»Ich weiß nicht, was ich glauben soll.«
»Bleib du hier stehen und halte die Kabine an. Ich schaue mich mal um.« Vorsichtig betrat ich den Fahrstuhl und hütete mich dabei, dem Loch zu nahe zu kommen. Es ging nicht mehr tiefer. Der Fahrstuhl hatte das Schachtende erreicht. Mir war die Beleuchtung in der Kabine zu schwach, deshalb nahm ich meine eigene Lampe zu Hilfe. Zuerst strahlte ich in die Höhe. Der Schein fand seinen Weg und huschte auch über die Stahlbänder hinweg, die wohl noch in Ordnung waren.
Das weiße Licht glitt dann durch die Öffnung vor meinen Füßen. Es war kein zerquetschter Körper zu sehen. Keine Teile davon, nur ein Untergrund, der naß schimmerte.
Ich drehte mich zu Suko um, der mich einfach nur anschaute. Mein Lächeln sollte beruhigend ausfallen, und ich zuckte dabei mit den Schultern.
»Nichts?«
»Nein, Suko. Weder oben noch unten.«
Er fragte nur: »Wo ist Shao? Wir beide haben den Schrei gehört, und wir können uns nicht gleichzeitig geirrt haben. Oder doch?«
»Nein, sicherlich nicht.«
»Dann sag mir, wo wir sie suchen müssen.«
»Vielleicht dort, wo sich auch die anderen befinden. Der Dunkle Schrecken und dieser Agashi.«
Suko hielt die Krone noch immer fest. Er starrte sie an, als könnte sie ihm eine Antwort geben. »Ich weiß nicht, was passiert ist. Ich weiß auch nicht, mit welchen Kräften die andere Seite ausgestattet ist. Aber sie kennt keine Gnade. Schau dir das Blut an. Ich habe Tuma Agashi weinen sehen. Es muß wieder geschehen sein, aber es sind keine normalen Tränen.«
Ich hörte Suko zwar zu, doch ich achtete nicht auf ihn, weil mir etwas anderes aufgefallen war. Es war die Waffe, mit der der Mann getötet worden war. Trotz seines teilweise zerstörten Gesichts sahen wir, daß es sich bei ihm um einen Japaner handelte. Das mußte dieser Kabito sein, von dem Shao berichtet hatte.
Ein Pfeil hatte ihn umgebacht. Aber keiner, der aus Shaos Köcher stammte. Er war anders, er war länger und konnte von einem sehr großen Bogen abgeschossen worden sein.
Das sagte ich auch Suko, der den Lift weiterhin blockierte. Meinen Freund interessierte es nicht.
Ihm ging es um Shao. Er sprach von ihr, und als ich ihm sagte, daß sie sich als Phantom mit der Maske wehren konnte, da wollte er mir auch nicht glauben.
»Ich habe den Schrei gehört. Ich habe ihn in Erinnerung wie einen Todesschrei.«
»Aber dann hätten wir sie hier liegen sehen müssen.«
»Sag mir eine andere Möglichkeit.«
»Die kenne ich nicht. Was nicht heißen muß, daß es sie nicht gibt, verflucht.«
Suko nickte. »Okay, John, ich reiße mich zusammen. Ich denke auch nach. Wenn ich dich höre, gehst du davon aus, daß sich Shao verwandelt hat. Sie ist nicht als normale Person in den Lift gestiegen, sondern als Phantom mit der Maske.«
»Genau das meine ich.«
»Und weiter…«
»Denk an die Macht im Hintergrund. An ihre Beschützerin.«
»Die Sonnengöttin?«
»Sicher.«
Suko lächelte zum erstenmal. »Ich kann es nicht glauben. Ich möchte es glauben, aber…«
»Ich bin fest davon überzeugt. Paß auf. Einer von uns muß nach oben. Ich werde dem Hausmeister sagen, daß er den Lift hier still legt. Die Kollegen rufe ich noch nicht an, denn ich kann mir vorstellen, daß wir noch einiges vor uns haben. Willst du hier
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