1116 - Der Hexenkelch
sie wird mächtiger werden, und dann wird sie euch knechten. Mein Freund Justin Corner ist nicht der erste Tote. Ich weiß, daß es mehr gibt. Und sie liegen auch hier auf dem Friedhof. Das habt ihr uns selbst erzählt. Verdammt noch mal, wollt ihr immer nur dukken?«
»Wir leben hier für uns«, sagte ein älterer Mann. »Wir wollen mit den anderen Dingen nichts zu tun haben. Wir haben euch nicht gerufen und euch nicht eingeladen. Ihr seid Fremde…«
»Die euch helfen wollen.«
»Wir kommen selbst zurecht.«
Alan Friedman schüttelte den Kopf. Er stieß mich an. »Da sehen Sie es, John. Sie können es auch hören. Die Leute hier wollen nicht. Sie stellen sich stur. Niemand soll ihnen helfen. Sie wollen mit ihrer ganzen Scheiße allein bleiben. Sie sind nur Marionetten, die an den langen Fäden der Hexe hängen und auch von ihr irgendwann erwischt werden. Dann ergeht es ihnen wie meinem Freund Justin.«
Er hatte recht, doch unsere Sorgen bewegten sich auf einer anderen Ebene. Zumindest die meinen.
»Wir können den Toten hier nicht liegenlassen«, sagte ich. »Zeit, um ihn zu begraben, haben wir auch nicht. Er muß irgendwo hin.«
»Ja, darüber habe ich mir bereits Gedanken gemacht. Es gibt auch eine vorläufige Lösung.«
»Das ist gut. Wie lautet sie?«
»Es gibt hier einen Mann namens Josuah Black. Einen ehemaligen Kapitän. Er ist hier so etwas wie der Chef der Insel. Er besitzt auch den einzigen Laden hier. Ein Geschäft, in dem man allerlei Waren kaufen kann. Die Dinge holt er sich immer vom Festland rüber.«
»Kennen Sie ihn direkt?« fragte Suko.
»Nicht so direkt. Ich habe ein paarmal mit ihm gesprochen. Er weiß auch, wer ich bin. Er hat ein Kühlhaus. Dort könnte man den Toten so lange lassen. Mehr weiß ich auch nicht.«
Wir waren einverstanden. Mir fiel auf, daß es hier keine Kirche gab. Als ich Friedman darauf ansprach, zuckte er nur die Achseln. »Es ist seltsam, aber nicht zu ändern. Die Menschen haben eben keine gebaut, wobei ich nicht denke, daß sie gottlos sind. Das bestimmt nicht«, fügte er leiser hinzu.
»Aber sie haben Angst, verstehen Sie? Angst vor der Hexe und deren Fähigkeiten. Wir wissen doch, was mit meinem Freund passiert ist. Sie hat sein Blut aus dem Kelch getrunken. Sie hat ihn altern und schließlich sterben lassen. Die Menschen hier denken, daß ihnen das gleiche Schicksal widerfahren könnte. Sie wissen so viel, nur trauen sie sich nicht, daraus Kapital zu schlagen. Es gibt keinen, der sich der verdammten Hexe entgegenstellt. Wir müssen darauf hoffen, daß Josuah Black vernünftig ist. Mehr kann ich Ihnen dazu auch nicht sagen.«
»Wie weit ist es noch?« fragte Suko.
»Sie finden ihn am Ende der Häuserreihe. Dort hat er seinen Laden. Black ist ein Einzelgänger. Manchmal ruppig, manchmal sehr schweigsam. Außerdem ist er schon älter.«
»Gut.« Suko bückte sich und hob den toten Justin Corner wieder an. Beobachtet wurde er dabei von Alan Friedman, der wieder schwer zu schlucken hatte.
Bei den Menschen hatten wir keine Reaktion auf unsere Worte erlebt. Sie blieben stumm wie die Fische, und nicht einmal ihre Blicke änderten sich. So ließen sie es zu, daß Suko den Toten anhob und ihn wieder über seine Arme legte.
Wir setzten den Weg fort. Ich war wütend. Am liebsten hätte ich mir die Leute der Reihe nach gepackt und durchgeschüttelt. Aber das brachte auch nichts.
Ich hörte das Wasser. Zur linken Hand prallten die Wellen gegen den steinernen Hafenkai. Sie würden nicht aufhören. Sie waren die heimlichen Beobachter des Menschen. Sie kannten deren Freuden und auch deren Leiden. Das Wasser war ehrlich. Es log nicht. Es war einfach da und würde auch immer bleiben.
Boote schaukelten in der Dünung. Keine modernen Jachten. Hier lagen die Arbeitsgeräte der wenigen Fischer. Masten ragten wie bleiche Skelettarme in die Höhe. Sie bewegten sich starr. Die Boote schaukelten, sie rieben mit ihren Rümpfen gegeneinander, was sich anhörte wie das Grollen irgendwelcher Tiere.
Die Vögel über unseren Köpfen schrieen. Besonders die Möwen taten sich hervor. Manche von ihnen flogen recht tief. Dann starrten sie auf den Toten, als wollten sie ihm die Augen aushacken oder ihm die Zunge aus dem Mund reißen.
Josuah Blacks Haus stand etwas erhöht auf einem flachen grünen Hügel. Eine Treppe führte hin.
Daneben verlief ein schräger Steinweg.
Das Haus war aus grauen Steinen gebaut. Ebenso wie das Dach. Recht große Fenster ließen einen Blick auf die
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