1118 - Zwischen Himmel und Hölle
schrecklich starr. Keine Bewegung in ihrem Gesicht.
Nicht das geringste Zucken.
»Bist du tot?« fragte Jane. Eine Antwort erhielt sie nicht.
»Man sagt, du bist tot, aber du bist es wiederum nicht, Sarah. Wo, verdammt, befindet sich dein Geist? Wo hält man dich gefangen? Was ist mit deinem Bewusstsein passiert? Existiert es noch? Oder ist es längst davongeflogen?«
Jane hatte einfach reden müssen, weil sie diese Totenstille nicht ertragen konnte. Sie war wie ein Druck, der sich immer stärker ausbreitete. Gegen ihn kam sie nicht an, und sie hatte das Gefühl, sich setzen zu müssen.
Auf der Bettkante fand sie ihren Platz. Durch den Druck bewegte sichauch die Matratze, und diese Bewegung wiederum übertrug sich auf Lady Sarah, die am Kopfende etwas hochgehoben wurde.
Es sah für Jane so aus, als wollte die »Leiche« im nächsten Augenblick aufstehen und das Bett verlassen.
Aber sie blieb liegen. Keine Veränderung. Man hatte ihr ein Hemd übergestreift. Weiß und blass wie ein Totenhemd. Darin lag sie eingewickelt, und aus den Ärmeln schauten die Hände und die dünnen Arme hervor wie zwei an den Enden eingeschnittene und von der Rinde befreite Stöcke.
Jane hatte sich mittlerweile an den Anblick gewöhnt. Die Streifen des Sonnenlichts störten sie auch nicht, denn sie überzogen nur das Fußende des Betts mit ihrem Muster. Trotzdem musste sie sich einen innerlichen Ruck geben, um die Frau zu berühren. Wieder zitterte ihre Hand.
Sehr sacht strich sie zuerst über die Stirn hinweg, und dann streiften ihre Fingerkuppen an den Wangen entlang. Es gab keinen Zweifel. Der Arzt hatte recht behalten. Lady Sarah war nicht abgekühlt.
Sie existierte als Tote weiter, doch Jane wollte nicht glauben, dass sie eine Untote, ein Zombie, war. Alles, nur das nicht, denn so grausam konnte das Schicksal einfach nicht sein.
Eine recht warme Haut. Wie vom Leben erfüllt, aber es gab kein richtiges Leben mehr in ihr. Sie war gestorben, und das auf eine verfluchte Art und Weise.
Magisch ums Leben gekommen…
Lady Sarah lag in einem Koma, wie es wissenschaftlich nicht mehr zu erklären war. Hinter ihr, versteckt in einer anderen Welt oder Dimension, lauerten die wahren Feinde. Und sie hatten erbarmungslos zugeschlagen. Wieder strich sie über die Haut hinweg. Auch jetzt blieb kein Tropfen Schweiß an ihren Fingern zurück.
»Wenn ich nur etwas für dich tun könnte«, flüsterte sie. »Himmel, ich würde vieles dafür geben…« Die Stimme versagte. Jane spürte, dass sich ihre Augen wieder mit Tränen füllten. So hatte sie die Horror-Oma noch nie erlebt. Klar, sie war schon älter, sie würde nicht ewig leben, das tat kein normaler Mensch, aber auf eine solche Art und Weise zu enden, hatte sie bei Gott nicht verdient.
Jane erschrak über das Wort »enden«. War es wirklich das Ende?
Sie stöhnte auf, und plötzlich geschah etwas mit ihr. Es konnte durchaus ein Adrenalinstoß gewesen sein, der ihre Lethargie hinwegfegte, denn jetzt strömte wieder Kraft durch ihren Körper. Sie wollte und würde sich wehren. Es musste eine Möglichkeit geben, Sarah zu retten. Der Hellseher sollte nicht gewinnen. So wenig wie er auch bei ihr gewonnen hatte.
»Bei mir?« flüsterte sich Jane selbst zu und hakte sich dabei an diesem Gedanken fest. Da war doch etwas gewesen, das Vernon Taske hatte verzweifeln lassen.
Es hatte an ihr gelegen. An ihren Kräften.
Es gab sie. Sie waren verborgen, aber Jane dachte daran, dass sie es schon geschafft hatte, sie zu kontrollieren und ebenso gezielt und kontrolliert einzusetzen. Gegen Feinde, gegen Personen, die ihr ans Leben gewollt hatten. Sie erinnerte sich wieder daran, wozu sie fähig war. Vielleicht würden ihr die Hexenkräfte auch diesmal helfen, um eine große Brücke zu schlagen. Zwischen Himmel und Hölle…
Sie musste ruhig sein. Durfte auf keinen Fall etwas überstürzen.
Brauchte Zeit und Nerven. Wollte sich auch nicht von dem schlimmen Anblick des Gesichts ablenken lassen.
Wie ging sie es am besten an? Wie konnte sie es schaffen, ihre Kräfte auf Lady Sarah wirken zu lassen? Und wenn es ihr tatsächlich gelang, war es auch gut für Sarah? War es nicht möglich, dass genau das Gegenteil eintrat?
Es waren Zweifel, mit denen sich Jane Collins quälte, aber sie wusste keinen anderen Weg und beugte sich tiefer über die liegende Frau. Dicht über ihrem Gesicht kam auch Janes Gesicht zur Ruhe.
Sie hielt den Blick gesenkt und konzentrierte sich einzig und allein zunächst auf sich
Weitere Kostenlose Bücher