112 - Der tägliche Wahnsinn
die einsetzende Geburt typische
«
Gnnniiiiiiihh!» der schwangeren Patientin, das ich aus einer meiner Fortbildungen kannte. Im Rahmen einer solchen hatte uns einmal eine Hebamme in Geburtshilfe unterrichtet und uns zur Verdeutlichung einige Filmsequenzen von Geburten vorgeführt. Durch sie lernten wir den Unterschied zwischen «Oooohhh … das zieht … ich glaube, da ist schon wieder eine Wehe» (das wir üblicherweise bei Einsätzen dieser Art zu hören bekommen) und dem dramatischen, pressenden Geräusch kennen, das Frauen von sich geben, wenn das Kind wirklich auf die Welt will. Und genau diese Presslaute vernahm ich aus der Wohnung. Die Frage: «Wo müssen wir hin, wo ist das Wohnzimmer?» hatte sich also erledigt.
Manni und ich schoben uns am hilflos wirkenden Mann vorbei und trugen unsere Ausrüstung dorthin. Zwischen Familienfotos und kitschigen Bildern aus dem Baumarkt fanden wir die werdende Mutter vor. Sie saß nach hinten gelehnt auf der Kante eines Sofas (wo das doch so schlecht für die Wirbelsäule ist …), die Knie an einen Glastisch gestemmt. Offensichtlich durchlebte sie gerade wieder eine Presswehe – bereits die zweite in der Minute, in der wir angekommen waren. Hier kündigte das Baby unmissverständlich seinen Wunsch an: «Heizt die Betten an! Ich will jetzt raus!»
Zunächst setzte ein Fluchtinstinkt bei mir ein. Trotz jahrelanger Erfahrung in meinem Job kannte ich diese Situation nur aus der Theorie. Und jetzt stand ich live vor einer solchen. Ohne Arzt. Aber um umzukehren und um den Block zu fahren, bis alles vorbei war, dafür war es zu spät. Da mussten wir jetzt durch …
Manni und ich breiteten unser Equipment aus, anschließend räumte ich den Sofatisch beiseite, um mehr Platz zu haben. (Falls Sie mal den Rettungsdienst zu Hause haben, wundern Sie sich nicht: Wir bauen uns die Wohnung so um, wie wir es gerade brauchen. Das beginnt beim Wegrücken von Tischen und Sesseln und geht über das Tragen von Kommoden in den Hausflur bis zum Aushängen von Türen.) Als das geschehen war, fing ich mit der Befragung an, um mir einen Überblick über das zu verschaffen, was hier gerade ablief.
«
Äh, nicht pressen! Bitte! Schöööön durchatmen. – Haben Sie den Mutterpass mal da? – Wie oft kommen die …»
«Gnnnniiiiiihh», unterbrach sie mich.
Mein Gott, schon wieder! Was war denn an dem «Schöööön durchatmen» nicht zu verstehen?
Der werdende Vater brachte uns den geforderten Pass, in dem der schwangerschaftsbegleitende Arzt alle Untersuchungsergebnisse, Besonderheiten und den errechneten Geburtstermin festgehalten hatte. Während ich die Seiten hektisch nach den für mich wichtigen Infos durchsuchte, wies ich den etwas panisch dreinblickenden Manfred an, bei der Leitstelle ein Löschfahrzeug anzufordern, damit wir weitere Kollegen zum Tragen der werdenden Mutter bekamen. «Laufen iss nicht mehr. Und ohne Tragehilfe bekommen wir das Frollein nicht alleine runter ins Auto …»
Von meiner eigenen Nervosität versuchte ich nichts durchblicken zu lassen. Denn auch die Kunden unseres Dienstleistungsunternehmens sind der Überzeugung, dass man sich im Rettungsdienst ständig mit Geburten herumschlägt. Aber wer mich kennt, weiß, dass mir unter Stress der Schweiß ausbricht. Er lief mir bereits die Schläfen hinab und hing als kecker Tropfen an der Nase. Manni rannte also zum Rettungswagen, dankbar, eine Aufgabe zu haben, die er bewältigen konnte, und bestellte über Funk die Verstärkung.
Irgendwie fand ich dann im Mutterpass endlich die Informationen, die ich haben wollte: Kind liegt normal, dritte Schwangerschaft, die ersten beiden ohne Komplikationen. Anscheinend eine Schwangere zum Anlernen. Danke, lieber Gott!
Während Manfred noch unterwegs war, rutschte die werdende Mutter von der Sofakante hinunter auf den Boden. Und fing wieder zu pressen an. Mir dämmerte, dass der Drops mit dem Transport wohl auch schon gelutscht war. Das Kind würde nicht bis zum Krankenhaus warten, um in die kalte Welt zu rutschen.
Jetzt wollte ich genau wissen, wie weit das Kind war, um mir die letzte Hoffnung auf
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das Übliche
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(gemächlicher Transport zum Kreißsaal) zu zerstören: War der Kinderkopf nämlich schon so tief im Becken, dass man ihn durch die Scheide erfühlen konnte, war es nur noch eine Sache von wenigen Minuten, bis alles vorbei war. Da ich aufgrund meiner Erziehung aber nicht so gern fremder Leute Frauen in den Schritt fasse, forderte ich die Patientin auf, selbst zu
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