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112 - Der tägliche Wahnsinn

112 - Der tägliche Wahnsinn

Titel: 112 - Der tägliche Wahnsinn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingo Behring
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Dienstjahren, der bereits bei zwei Hausgeburten dabei war (allerdings zusammen mit einem Notarzt) und deswegen ein gewisses Maß an Geburtshelfererfahrung besaß. Er sah, wie Manni hektisch den Kinderkoffer auf links drehte, und beschloss, dass er eine bessere Hilfe als der Sanitäter sein könnte. Steffen schob also Manfred beiseite, der ihm nur allzu bereitwillig das Feld überließ, und fing zu meiner Erleichterung augenblicklich an, aus dem Chaos die benötigten Utensilien herauszufingern. Manfred hielt sich weiter im Wohnzimmer bereit, wirkte aber sichtlich entspannter, seitdem Steffen eigenmächtig eingegriffen hatte. In der Wohnung unter uns bildete mein Schweiß bestimmt schon Flecken an der Decke.
    Da der mütterliche Darm mittlerweile leer war und der Kinderkopf sich mehr und mehr zeigte, beauftragte ich den Vater damit, den Kübel mit den stinkenden Küchentüchern bitte zu entsorgen. Was er im Bad auch laut würgend tat. Ob er nun vor Aufregung würgte oder ob er des gut durchwachsenen Aromas wegen mit seinem Mittagessen kämpfte, war nicht eindeutig herauszuhören. Jedenfalls war, als er zurückkehrte, nicht nur der Eimer leer, sondern vermutlich auch sein Magen.
    Unterdessen machte die mittlerweile zweieinhalbfache Mutter einen guten Job: Während ich ein dickes Tuch gegen den Damm drückte, um einem möglichen Riss wenigstens etwas entgegenzuwirken, wurde mit der nächsten Presswehe der Kopf des Kindes sichtbar, den ich etwas bremste, damit das umgebende Gewebe mehr Zeit hatte, sich zu dehnen. Nach einer kurzen Pause kam dann auch der Rest. Fluppte problemlos. Das hätten wir also schon mal! Ich drehte das Baby auf den Bauch und rieb leicht die Wirbelsäule, um es zum Atmen anzuregen. (Kind kopfüber aufhängen und Klaps auf den Po? Ich schlage doch keine Kinder!) Daraufhin beschwerte sich das Neugeborene lautstark. Es gefiel ihm nicht so recht, was hier passierte.
    Kurzer Check: Alles dran, atmet, zappelt, ist rosig. Die Mutter schien ebenfalls okay zu sein, keine Blutungen, sie atmete normal, das Gesicht genauso rosig wie das des Babys – und wesentlich entspannter als noch vor zwei Minuten! Na, besser hätte es nicht laufen können. Die Geburt hatte von unserem Eintreffen bis zum ersten Schrei nicht einmal eine viertel Stunde gedauert.
    «Glückwunsch!», sagte ich zur Mutter. «Das Kind ist offensichtlich gesund, wird aber später vom Arzt noch näher untersucht.» Zu Steffen: «Gib mir mal die Klemmen.»
    Das Baby legte ich auf ein Handtuch zwischen den Beinen der Mutter ab und setzte die drei Nabelklemmen. Drei Klemmen deshalb, um etwas Nabelblut für spätere Untersuchungen zu sichern. In diesem Augenblick tauchte die Notärztin mit ihrem Team auf. Toll, wie bei John Wayne: Wenn die Kavallerie in Erscheinung tritt, ist bereits alles gelaufen …
    «Tja, Pech, Frau Doktor. Wir konnten da leider nicht mehr warten», sagte ich.
    Bei allen Anwesenden löste sich jetzt die Anspannung. Mein Shirt klebte am Körper, und Tropfen hingen an Kinn und Nase, die ich gar nicht so oft wegwischen konnte, wie sie neu entstanden. Bevor mir Steffen die verlangte Schere zum Abnabeln gab, raunte er mir zu: «Willst du nicht erst den Vater fragen, ob er das machen möchte?» O ja, da war ja noch was: Höflicherweise sollte man erst einmal den frischgebackenen Vater darauf ansprechen, ob er nicht selbst abnabeln will. Auf meine gut gelaunte Frage trat der Vater allerdings erschrocken zwei Schritte zurück: «Äh, nee, machen Sie ruhig …»
    Noch immer war er etwas blass um die Nase, aber in gewissem Maße konnte ich ihn verstehen: Es musste etwas durchschnitten werden, was gut durchblutet an einem geliebten Menschen hängt. Dass das nicht wehtut, weiß ich zwar aus der Ausbildung, aber auch mich kostete es eine gewisse Überwindung.
    Nach dem Abnabeln untersuchte die Studierte kurz Kind und Mutter, bevor wir beide Patienten ohne Zwischenfälle ins Krankenhaus brachten. In Ruhe konnte die Mutter dort nachgebären.
    Die Hebamme aus der Fortbildung hatte uns erzählt, dass man mittlerweile fast 50 Prozent der Schwangerschaften als Risikoschwangerschaften einstufen würde, das bei normaler Kindeslage aber in den meisten Fällen eher übertrieben sei. Während ihrer Berufsjahre in der Schweiz habe sie Dutzende Geburten problemlos in irgendwelchen Hütten auf der Alm begleitet. Nach dieser Hausgeburt glaubte ich ihr, dass viele Geburten ohne handfeste Risikofaktoren völlig natürlich ablaufen könnten. Wenn man es denn

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