1122 - Der Prophet des Teufels
pessimistisch. Mich stört auch der Begriff Prophet des Bösen. Ich will ehrlich sein, John. Er passt genau in diese Zeit. In wenigen Monaten erleben wir die Jahrtausendwende, ein neues Jahrhundert liegt vor uns, und was ist da schon nicht alles geschrieben worden. Es tauchen wieder die falschen Propheten auf, die den Menschen Angst einjagen, und dieser hier ist wohl einer von der schlimmsten Sorte, der den Glauben der Menschen an die Kirche erschüttern will, indem er deren Vertreter tötet. So muss ich bisher die Sachlage sehen. Mehr kann ich dir nicht sagen.«
»Nicht, schlecht, Harry. Aber was sagst du zu diesem Skelett? Wie passt es in deine Rechnung?«
»Er ist kein Prophet.«
»Sondern?«
»Ein Dämon, John, und zwar ein verdammt mächtiger.« Dagegen konnte ich nichts sagen, denn ähnliche Gedanken hatten auch mich beschäftigt. Ich bezweifelte, dass man uns durch den Film einen Bären aufgebunden hatte. Der war schon echt. Dass der Kripo-Beamte gefilmt hatte, beruhte auf einem Zufall. Dieser Dämon hatte sicherlich nichts davon mitgekommen.
Ich hatte in der kurzen Zeit auch schon darüber nachgedacht, wer sich hinter der dunklen Gestalt verbergen konnte. Das Skelett wäre ein Hinweis auf den Schwarzen Tod gewesen, der aber war vernichtet. Er tauchte in der Gegenwart nicht mehr auf. Nur wenn ich in die Vergangenheit »reiste« und den Kontinent Atlantis besuchte, geriet ich mit ihm in näheren Kontakt. Vorausgesetzt, das Schicksal spielte mit.
»Jetzt bist du so nachdenklich wie ich, John.«
»Das bleibt nicht aus.«
»Denk mal an die Karten.«
»Okay. Und weiter?«
»Ich könnte mir auch vorstellen, dass wir es mit einem Magier zu tun haben. Mit einem zweiten Copperfield. Mit einem Illusionisten, der es schafft, eine gewisse Anzahl von Menschen zu täuschen. Das ist alles möglich.«
Ich konnte dem nicht zustimmen und sagte: »Wenn es tatsächlich so wäre, Harry, warum hätte er sich dann als Prophet des Bösen ausgeben sollen? Kannst du mir das verraten?«
»Nein.«
»Er hat etwas anderes vor.«
»Und was? Priester umbringen?«
»Auch.«
»Was bezweckt er damit? Will er die Menschen warnen? Will er ihnen seine Macht demonstrieren oder was?«
»Ich habe keine Ahnung, Harry. Er will jedenfalls die Werte auf den Kopf stellen, und er fängt dort an, wo es den Menschen weh tut und sie ihre Hoffnung zusammenbrechen sehen. Sie haben sich doch über die Jahrhunderte hinweg durch die Kirche beschützt gefühlt. Sie ist immer ein Bollwerk gewesen, und sie hat die schlechtesten Zeiten überlebt. Kriege, Hungersnöte, gesellschaftliche Veränderung, sie war nie richtig am Boden, und jetzt erscheint einer, der neue Eckpunkte setzt und dafür sorgt, dass die Menschen in Panik geraten. Das könnte das große Ziel sein. Und ich frage mich, wo wir anfangen sollen, diesen Propheten des Bösen zu jagen. Eine Idee habe ich nicht.«
»Aber ich weiß, was wir unternehmen können.«
»Hört sich ja direkt gut an.«
»Lade mich zum Essen ein.«
Harry verdrehte die Augen. »Currywurst?«
»Muss nicht sein.«
»Schade, und ich habe gedacht, es würde preiswert werden…«
***
Frank Mielke gehörte zu den noch jungen Geistlichen, die zwar den alten Traditionen folgten, manches davon aber in Frage stellten und auch immer wieder nach neuen Wegen suchten, um den Kontakt mit den jungen Mitgliedern seiner Gemeinde zu fördern. Das war ihm auch mit großer Geduld gelungen, und dank seines Einsatzes hatte er es geschafft, dass auch mehr jüngere Leute zu ihm in die Kirche kamen und wieder seinen Predigten zuhörten.
Auch sie waren in einen modernen und beileibe nicht rechthaberischen und salbungsvollen Tonfall gehalten, aber das war jetzt vorbei und vorläufig vergessen, nachdem er das Erlebnis auf dem kleinen Friedhof bei der Beerdigung gehabt hatte.
Plötzlich war für ihn alles anders geworden. Er hatte einen Propheten erlebt, er hatte den Tod in der Gestalt eines Skeletts gesehen.
Es war ihm, als hätte sich vor seinen Augen die Tiefen der Hölle aufgetan, an die er in dieser Form nicht mehr hatte glauben wollen.
Der Prophet des Bösen!
Was steckte hinter diesem Begriff? War es vorausgesagt worden aus den apokalyptischen Voraussagen des Johannes, der das Ende der Welt mit so plastischen Worten dargestellt hatte?
Er wollte es nicht glauben. Er sah den Drachen oder das große Tier nicht, das dort erwähnt wurde. Das Grauen hielt sich zurück, und er wusste, dass diese Sätze zu einer Zeit geschrieben worden
Weitere Kostenlose Bücher