1129 - Das Blutmesser
dessen trat etwas anderes ein. Ihre rechte Hand sank nach unten. Sie zitterte wie von Windböen malträtiert, und genau das war meine Chance.
Ich lag mit meiner Vermutung nicht falsch, denn das Kreuz in meiner Hand hatte sich längst erwärmt, und ich wußte auch, daß ich es jetzt schaffen konnte.
Während ich auf Michelle zuhetzte, geschah das Unwahrscheinliche.
Das Messer hatte sie nicht losgelassen. Man hatte es ihr gegeben, und jetzt nahm man es ihr wieder weg. Wahrscheinlich war sie in den Bereich der Macht des Kreuzes gelangt, denn es passierte etwas mit der Klinge.
Sie glühte in einem grellen Weiß - und war plötzlich nicht mehr zu sehen.
Vor mir stand Michelle Maron, deren rechte Hand leer war. Keine Spur mehr vom Rasiermesser.
Noch einen langen Schritt, dann riß ich sie an mich, und sie fiel mir auch in die Arme. Ich hörte ihren heftigen Atem, und spürte ihr Zittern.
Ich wußte nicht, was sie alles fühlte. Für diesbezügliche Fragen war es jetzt zu früh, sie mußte sich erst ausruhen, und so brachte ich sie hin zur Sitzecke, wo ich sie wie eine Puppe niederdrücken konnte, ohne daß sie sich beschwerte.
»Bleib bitte sitzen.«
»Ja…«
Ich lief zur Küchenzeile und suchte die Umgebung mit dem Kreuz ab. Da war nichts zu spüren. Kein Blinken, keine Wärme, die meine Hand getroffen hätte, es blieb normal.
Die Kaffeekanne nahm ich mit. Die Baguettes hatte sie noch nicht in die Mikrowelle gelegt. Darauf verzichtete ich ebenfalls, aber zwei Tassen fand ich. Große Becher mit gelben Strahlesonnen bemalt.
Michelle saß zusammengesunken in ihrem Sessel. Was sie dachte, war weder ihrem Gesicht noch den Augen anzusehen. Ihre Hände lagen im Schoß, während sie selbst am gesamten Leib zitterte.
Erst als sie das Geräusch des in die Tasse strömenden Kaffees hörte, hob sie den Kopf an. Da sah ich auch den feinen Streifen an ihrem Hals.
Dort hatte sie sich mit der dünnen Klinge verletzt. Die rote Spur war nicht dicker als ein Bindfaden.
»Hast du ihn gekocht?« fragte sie.
»Nein, die Maschine.«
Ihre Lippen zuckten zuerst. Plötzlich mußte sie lachen, und ich wunderte mich darüber. Es war kein ehrliches, kein befreiendes Lachen. Eher eines, das sie nicht kontrollieren konnte und as förmlich aus ihr herausbrach. Hart und scharf, und sie schüttelte zugleich auch den Kopf.
Ich schob ihr die Tasse zu. »Trink erst mal einen Schluck. Er wird dir guttun.«
Sie zögerte noch. Ich hörte sie heftig atmen. Nichts erinnerte mehr an ihr Lachen. Wir saßen uns gegenüber, während sich draußen der Dunst immer mehr verdichtete, auch in die Höhe stieg, so daß erste Schwaden draußen am gläsernen Dreieck träge vorbeizogen. Langsam schlürfte sie das heisse Getränk. Nach drei, vier Schlucken setzte sie den Becher ab, schaute mich starr an, während ihre rechte Hand in die Höhe glitt und der ausgestreckte Zeigefinger nahe des Blutstreifens an der Kehle entlangfuhr. Bisher war er noch nicht verschmiert gewesen, das allerdings passierte jetzt. Auch auf der Fingerkuppe blieb Blut zurück.
»Ich… ich blute«, flüsterte sie.
»Ja.«
»Warum?«
»Du weißt nichts mehr?« fragte ich leise.
Sie räusperte sich. »Nebel«, flüsterte sie dann, und es war klar, daß sie nicht den Nebel draußen auf den Wiesen meinte. »Es ist wie Nebel, der sich in meinem Kopf festgesetzt hat. Ich komme nicht dagegen an.« Sie schaute auf die Kuppe des rechten Zeigefingers. »Außerdem blute ich.«
»Ja, du hast dich verletzt, Michelle.«
»Wieso habe ich mich verletzt? Was habe ich denn alles getan?«
»Du hast keine Erinnerung?«
»Nein, so gut wie nicht. Ich wollte uns Kaffee machen, das weiß ich schon. Dann aber liefen die Dinge wohl völlig anders, und ich habe keine Erinnerung mehr. Ist es denn so schlimm mit mir gewesen?«
Ich deutete auf ihren Hals. »Leider hast du dir die Verletzung selbst zugefügt, Michelle.«
»Wie die an meiner Hand, als das Glas zerbrach.«
»Diesmal mit einem Messer. Kannst du dir vorstellen, was es für ein Messer gewesen ist?«
»Das Blutmesser!«
Sie hatte die Worte gesagt, aber es hatte sich angehört, als wären sie von einer fremden Person ausgesprochen worden. Ihr Gesichtsausdruck veränderte sich, und sie starrte auf etwas, das wohl nur sie selbst sah.
Das jedoch schrecklich sein mußte, denn das Gefühl dafür war in ihren Zügen zu lesen.
Ich ließ Michelle in Ruhe, um ihr eine gewisse Erholung zu gönnen.
»Ja«, sprach sie nach einer Weile, »jetzt
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