1129 - Das Blutmesser
hinzu.
»Danke, Madam, sehr freundlich. Folgen Sie meinem Rat, und Sie werden wieder hipp sein.«
»Das hoffe ich.«
»Schönen Tag noch.«
Der Espresso dampfte. Sie faßte die Tasse am Henkel an und führte sie behutsam zum Mund. Das heiße Getränk trank sie mit langsamen Schlucken. Es war bitter, aber sie nahm keinen Zucker, und beim Trinken beobachtete sie sich in der nahen Scheibe.
Sie sah eine Frau mit einem leidlich hübschen Gesicht. Schmale Wangen, ein etwas breiter Mund, wie bei Julia Roberts, eine hohe Stirn und braune Augen. Es waren eben die Augen, die aus dem Gesicht etwas Besonderes machten, und oft genug spiegelten sie ihre Gefühle wider.
Im Moment war der Blick unstet. Geprägt von der Erinnerung an das Erlebte. Es war nicht real gewesen, aber trotzdem so echt, daß sie noch jetzt erschauerte. Das zu begreifen und damit zurechtzukommen, war nicht einfach. Mittlerweile hatten sich die Belästigungen schon zu einer Qual entwickelt und für Angstzustände gesorgt. Besonders bei Dunkelheit waren sie schlimm. Da hatte sie einfach das Gefühl, als wäre ihr Haus mit Gespenstern der übelsten Sorte gefüllt.
Der heiße Espresso brachte sie noch mehr ins Schwitzen. Sie hatte plötzlich das Gefühl, innerlich zu kochen und diese innere Hitze sorgte bei ihr für einen erneuten Schweißausbruch.
Ein paarmal tupfte sie mit dem Taschentuch das Gesicht ab, aber es brachte nicht viel, denn der Schweiß kehrte immer wieder zurück.
Mit leicht zitternder Hand griff sie nach dem Glas, in dem der Prosecco perlte. Die prickelnde Kühle tat ihr gut.
Der nette dunkelhäutige Kellner hatte recht behalten. Sie fühlte sich jetzt wohler und atmete tief durch. Bisher hatte sie verkrampft auf dem Stuhl gesessen. Jetzt streckte sie die Beine aus und schaute nach vorn. Direkt hinein in den Trubel der Einkaufspassage, in der sich die Käufer und Seher drängten, denn das schlechte Wetter hatte sie in die mit Geschäften gefüllten Ladenstraßen hineingetrieben.
Frauen, Männer, Kinder, bepackt mit Taschen und Tüten, als gäbe es am nächsten Tag nichts mehr zu kaufen. Viel Platz war nicht. Die Menschen bewegten sich im Schneckentempo voran.
Alles war normal und trotzdem fremd. Sie liebte es im Prinzip, sich unter die Menschen zu mischen, denn durch sie erhielt sie immer neue Eindrücke, die auch auf die Arbeit umschlugen.
Plötzlich war er da!
Er! Die Gestalt! Inmitten der anderen bewegte sie sich, ohne daß sie gesehen wurde. Sie ging einfach weiter, sie blieb vor ihr stehen, und die Frau auf ihrem Stuhl erstarrte. In der rechten Hand hielt sie das dünne Glas. Finger zuckten und das Material zerbrach. Sie merkte nicht, daß Blut aus den kleinen Wunden ihrer rechten Hand trat, denn ihre Augen waren nur auf die Gestalt in der roten Kutte gerichtet und in das graue, alte zerfurchte Gesicht. Auf dem Kopf saß der spitze Hut, ebenfalls grau, aber auch metallisch schimmernd.
Der Unheimliche beugte sich vor. Sein Gesicht kam näher und näher. Er kippte den Stab, dessen Ende auf ihre Brust wies. Es war keine Lanze, die sie hätte durchbohren können, denn sie sah eine kleine Kugel darauf sitzen.
Warum kommt denn niemand? schrie es in ihr. Warum hilft mir denn keiner? Die Menschen müssen doch gesehen haben, was hier vor sich geht! Sie können nicht vorbeigehen. Sie müssen fragen, was geschieht und mir helfen…
Nichts davon geschah.
Michelle Maron blieb allein.
Und sie schaute zu, wie die Lanze mit der Kugel kippte und auf sie zugeschoben wurde.
Näher, immer näher!
Michelle fürchtete sich vor dem Kontakt. Sie ahnte, daß dies alles andere als gut für sie sein könnte. Es war ihr auch nicht möglich, einen Schrei auszustoßen. Sie hockte allein in dem Trubel und schien von allem abgeschirmt zu sein.
Dann spürte sie den leichten Druck direkt unter dem Hals, wo die Haut so weich war. Es war kalt wie Eis, dann wurde es heiß, danach glühend, und plötzlich wußte sie nicht mehr, wo sie sich befand. Die Umgebung verschwand, nichts war zu sehen, keine Menschen, kein Café, keine Geschäfte. Dafür öffnete sich ihr eine völlig andere und grauenvolle Welt…
***
Es war nicht dunkel um sie herum, obwohl es Michelle im ersten Augenblick so vorkam. Aber sie hielt die Augen offen, und sie sah, daß die Dunkelheit allmählich verschwand. Dabei verwandelte sie sich nicht in ein strahlendes Hell, das Schwarz wurde nur von einer anderen düsteren Farbe abgelöst. Von einem finsteren und blutigen Rot, das ihre
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